Interview

Mai Thi Ngyuen-Kim: „Mit Karl Lauterbach könnte ich locker eine Stunde streiten“

Die Wissenschaftsjournalistin im Gespräch über „Dislike-Blitzkriege“, Talkshow-Frust und die Verantwortung der Öffentlich-Rechtlichen.

Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat während des Chemiestudiums in langweiligen Vorlesungen sehr gelitten. 
Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat während des Chemiestudiums in langweiligen Vorlesungen sehr gelitten. ZDF/Jens Koch

Schon während ihres Chemiestudiums begann Mai Thi Ngyuen-Kim, Erklärvideos bei Youtube hochzuladen, in ihrem Kanal „The Secret Lives of Scientists“ ging es um Bierbäuche, Gravitationswellen und Eichhörnchen. Als sie ihren Doktortitel in der Tasche hatte, wurde sie vom öffentlich-rechtlichen Jugendkanal funk angeworben und kehrte dem Labor den Rücken. Heute moderiert die Chemikerin „Terra X“ , hat einen Berg an Preisen, ihre eigene Show „Maithink X“ bei ZDFneo und den millionenfach abonnierten Youtube-Kanal „maiLab“. Wie man erfolgreich Wissenschaft vermittelt, was sie mit Bill Gates und Angela Merkel zu tun hat und warum ihr Bekenntnis zu Scientists for Future kein Aktivismus ist, erzählt sie im Interview.

Berliner Zeitung: Frau Nguyen-Kim, wenn man sich die Kommentare unter Ihren Youtube-Videos anschaut, lautet ein Großteil davon ungefähr so: „Danke, danke, danke. Jetzt habe ich endlich mal verstanden, was mir kein anderes Medium vorher erklären konnte.“ Was machen die anderen Medien falsch und Sie richtig?

Mai Thi Nguyen-Kim: Ich bilde mir zumindest gern ein, dass es an meinem grundsätzlichen Ansatz liegt, den Menschen ein bisschen mehr zuzutrauen. Ich glaube nämlich, dass etwas so Komplexes wie Wissenschaft so weit wie möglich runterzubrechen, immer möglichst kurz, knackig und verdaulich zu präsentieren, am Ende sogar zu weniger Verständnis führt. Gerade in den heutigen Zeiten mit dem riesigen Informationsüberfluss und widersprüchlichen Infos, die man so beim Googeln findet, läuft man Gefahr, dass diese verkürzte Aussage, die man selbst getroffen hat, einer anderen, ebenso verkürzten, komplett widerspricht oder zu widersprechen scheint. Dann stehe ich als Laie da und bin völlig aufgeschmissen. Und kann dann höchstens denken, irgendwie ist mir die Mai sympathischer – oder halt auch nicht. Deshalb versuche ich, nicht nur Erkenntnisse zu vermitteln, sondern insbesondere bei den kontroverseren Themen immer klarzumachen, welche wissenschaftlichen Methoden angewendet wurden. Was haben diese Forschenden tatsächlich gemacht, um diese Rückschlüsse zu ziehen? Die stehen ja nicht irgendwie aufm Berg und kriegen eine Eingebung. Haben sie etwas gemessen? Gab es eine Kontrollgruppe, und wenn nicht, was sagt das über die Forschung aus? Ich glaube, das ist total hilfreich. Methodenverständnis ist Empowerment für Laien, und das kommt oft zu kurz. Gerade bei Wissenschaftsvermittlung.

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ZDF/Jens Koch
Zur Person
Dr. Mai Thi Nguyen-Kim ist Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin. Sie moderiert im ZDF „Terra X“, präsentiert auf ZDFneo ihre Show „Maithink X“ und produziert den millionenfach abonnierten Youtube-Kanal „maiLab“. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz. Ihr Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ wurde 2021 zum SPIEGEL-Bestseller. 

Wie hat sich das Verhältnis der Menschen zu Wissenschaft und Wissenschaftsjournalismus durch die Corona-Pandemie verändert?

Ich bin mir unsicher. Erst mal finde ich es gut, dass Wissenschaft jetzt so viel mehr Aufmerksamkeit bekommt, denn ohne Aufmerksamkeit kann man auch nichts vermitteln, ist ja klar. Ich bin mir aber nicht sicher, ob diese Pandemie-Aufmerksamkeit der Wissenschaft am Ende vielleicht einen Bärendienst erwiesen hat. Eben weil Wissenschaft meiner Meinung nach nur mit einer Minimalkomplexität wirklich verständlich wird. Und nicht durch nur so eine Ansammlung von Fakten und Infos, die man nicht einordnen kann. Wir haben jetzt medial ein supergrelles Spotlight auf die Wissenschaft gelenkt, die aber eigentlich eine riesige Bühne füllt, und zwar eine sehr komplexe. Weil wir jeden Tag mit irgendwelchen r-Werten und Zahlen vollgeballert wurden, hatte man irgendwann verständlicherweise den Eindruck, dass man sich sehr viel damit befasst hat und auch gut auskennt. Und das finde ich eigentlich noch viel gefährlicher. Ein unvollständiges, verzerrtes Bild zu haben und zu meinen, man würde Wissenschaft verstehen, finde ich eigentlich noch viel gefährlicher als wenigstens zu wissen – und so war es eigentlich vorher –, dass man sich eben nicht so gut auskennt.

Wie kann man gegensteuern?

Da komme ich wieder auf die Methoden zurück. Die Medien sollten vermeiden, immer aus einer wissenschaftlichen Autorität heraus zu sprechen. Sondern immer versuchen, klarzumachen: Wissenschaft ist nicht Schwarz oder Weiß, ist nicht Ja oder Nein, ist nicht immer die kurze schnelle Antwort und eine Handlungsempfehlung. Manchmal fußt ein Konsens auf steinharter Evidenz, wie im Fall des menschengemachten Klimawandels. Aber manchmal gibt es auch total viele Fragezeichen. Und warum es manchmal so und manchmal so ist, kann man eigentlich nur verstehen, wenn man auch die Methoden versteht.

Sie haben mal gesagt, dass Sie Talkshows im Fernsehen für das falsche Format halten, um über Wissenschaft zu sprechen. Warum gehen Sie trotzdem immer wieder hin?

Ich habe eine ambivalente Beziehung dazu. Manche Talkshows werfen die Zuschauer um 20 Schritte zurück, weil das Format auf Konfrontation abzielt. Dann ist da jemand eingeladen, der den wissenschaftlichen Konsens vertritt, und eben noch irgendein anderer, der dagegen spricht, einfach damit eine Debatte zustande kommt, die aber niemanden weiterbringt. Für das Verständnis ist das nicht förderlich. Es hat sehr lange gedauert, bis ich Karl Lauterbach mal in persona irgendwo getroffen habe, weil wir beide eben im Schwarz-Weiß-Schema der Talkshows dieselbe Meinung vertreten. Das stimmt natürlich nicht. Karl Lauterbach und ich könnten locker eine Stunde lang streiten und damit eine Sendung füllen, differenziert und respektvoll. Es gibt natürlich auch viel Gemeinsamkeit, aber nicht nur. Am Ende gehe ich dann aber doch immer wieder hin, weil ich denke: besser ich als jemand anderes. Ich fühle auch eine gewisse Verantwortung, weil sich viele aktiv Forschende zurückgezogen haben. Das ist den Zuschauern gar nicht bewusst.

Warum ziehen sich so viele Wissenschaftler aus der Öffentlichkeit zurück?

Weil man da nichts gewinnen kann. Im Gegenteil. Wissenschaftsvermittlung bringt dir als Forscherin für deine Reputation gar nichts. Auch Christian Drosten hat für seine Aufklärungsarbeit karrieretechnisch sehr viel aufgegeben. Das zu lesen, fand ich sehr frustrierend. Mein Job ist aber, in der Öffentlichkeit zu sein.

Mit welchem Anspruch sind Sie angetreten, als Sie Ihre ersten wissenschaftlichen Youtube-Erklärvideos produziert haben?

Anfangs war das ein Hobby neben der Doktorarbeit. Ich fand es immer extrem schade, wenn Leute meine Leidenschaft für Chemie nicht teilen konnten, also wollte ich ihnen zeigen, was sie verpassen! Professionell wurde es dann, als 2016 funk auf mich zukam mit dem Ziel, junge Menschen auf Youtube zu erreichen. Denn die jungen Menschen gucken ja kein Fernsehen mehr, zahlen aber Rundfunkbeitrag. Und deshalb muss natürlich auch für sie Programm gemacht werden. Eigentlich wollte ich das nur ein Jahr lang machen und dann in die Wissenschaft zurückkehren – habe mich dann aber letztlich dagegen entschieden und bin bei dem neuen Job geblieben. Auch weil ich das Gefühl hatte, dass es wichtig ist. Damals ging es im großen Stil los mit Trump und den Alternative Facts, und da hatte ich das Gefühl, Wissenschaft und Sachlichkeit müssen in der Öffentlichkeit dringend vermittelt werden. Claus Kleber hat mal gesagt, ich sei eine „Anwältin der Fakten und Vernunft“. Eins der schönsten Komplimente, die ich je bekommen habe. So würde ich mich tatsächlich gern verstehen.

Mai Thi Nguyen-Kim bei der Moderation von „Maithink X – Die Show“
Mai Thi Nguyen-Kim bei der Moderation von „Maithink X – Die Show“ZDF/Ben Knabe

Mit wie viel Kritik werden Sie online konfrontiert und wie hat sich das seit Pandemiebeginn entwickelt?

Nach Corona-Videos gibt es regelmäßig kleine Hassstürme, weil in einschlägigen Telegram-Gruppen zum sogenannten Dislike-Blitzkrieg aufgerufen wird. Daran beteiligen sich nicht unbedingt viele Menschen, aber die wenigen sind sehr wütend. Und haben offenbar nichts Besseres zu tun. Ich und mein Team bleiben da recht unbeirrt. Wir sind ja auch Freunde der Statistik und wissen, dass das nicht repräsentativ ist. Psychologisch neigt man dazu, unter vielen positiven Kommentaren auf die negativen zu schauen, aber davon muss man wegkommen. Ich persönlich schaue mir seit Jahren gar keine Kommentare mehr an, weil ich davon überzeugt bin, dass das psychologisch ungesund ist. Ich habe das Privileg einer Infrastruktur um mich herum, die mir das ermöglicht, damit ich mich auf meine Arbeit konzentrieren kann. Man muss es auch so sehen: Viel Hass geht Hand in Hand mit einer großen Reichweite oder Relevanz. Früher haben diese Leute mich gar nicht auf dem Schirm gehabt. Jetzt gibt es die wildesten Erzählungen, viele glauben, dass ich mit Bill Gates und Angela Merkel die Strippen ziehe. Das ist einfach ein Nebeneffekt von einer großen Reichweite, die ja unser Ziel ist.

Haben die Shitstorms parallel zu den Corona-Beschränkungen in diesem Jahr abgenommen?

Einerseits ist es ein bisschen ruhiger geworden, andererseits merken wir jetzt im Zuge des Ukraine-Kriegs, dass die gleichen Kreise und die gleichen Verschwörungsideologien einfach an dieses Thema andocken, teilweise auf sehr radikale Art. Das wird nicht ernst genug genommen. Der Politikersatz „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum“ ist leider nach wie vor kaum mehr als eine Phrase. Das muss sich ändern. Meinungsfreiheit kann ja nicht heißen: Du kannst alles sagen, aber dann wirst du halt bedroht. So ist es aber im Moment. Und dann fragen wieder Leute, warum denn so wenige Frauen in der Öffentlichkeit stehen wollen. Es kann doch nicht sein, dass man einen Sender mit einer Rechtsabteilung und allem Drum und Dran hinter sich haben muss, um in Ruhe Wissenschaftsjournalismus zu machen.

Wie sehr hat Sie eigentlich der Fall Patricia Schlesinger in den vergangenen Wochen beschäftigt?

Was soll man dazu sagen. Ich bin eine glühende Verfechterin des öffentlich-rechtlichen Prinzips als wichtigem Teil einer demokratischen Medienlandschaft. Für mich, aus der Wissenschaft heraus, gibt es keine größere Unabhängigkeit als von allen mit dem gleichen Beitrag finanziert zu werden. Gleichzeitig ist das natürlich eine unglaubliche Verantwortung, die man sehr ernst nehmen muss. Man muss verstehen, was dieser Rundfunkbeitrag bedeutet. Und dass er auf keinen Fall, nicht im geringsten Maße, missbraucht werden darf. Der Fall Schlesinger macht mich deshalb traurig und wütend. Das mit aller Sorgfalt aufzuklären und mit den Fehlern umzugehen, muss jetzt oberste Priorität haben, denn Vertrauen ist am Ende die wichtigste Währung für Medien.

Die öffentlich-rechtlichen Medien sehen sich in letzter Zeit häufiger mit dem Vorwurf konfrontiert, Aktivismus und Journalismus zu vermischen. Sie engagieren sich bei Scientists for Future. Sehen Sie da einen Konflikt?

Ich habe die Initialstellungnahme von Scientists for Future unterschrieben und sehe da überhaupt keinen Konflikt. Denn was ich unterschrieben habe, ist eine Liste von Fakten. Ich finde es auch wichtig, zwischen Scientists for Future und Fridays for Future zu differenzieren. Die Stellungnahme von Scientists for Future ist entstanden, nachdem einige Politiker den Aktivisten gesagt haben: Ist ja schön und gut, aber lasst das mal lieber die Experten regeln. Und da haben sich natürlich viele Expertinnen und Experten auf den Schlips getreten gefühlt, weil sie sich seit Jahrzehnten den Mund fusselig geredet haben – und dann wird plötzlich öffentlich nach Experten verlangt. Deshalb ging es dann darum, noch mal sehr deutlich zu machen, was der Expertenstand ist. Es gibt in der Wissenschaft nicht so oft den Luxus, dass man so einen klaren Konsens hat wie beim menschengemachten Klimawandel. Deshalb ist das für mich kein Aktivismus. Wenn Luisa Neubauer konkrete politische Maßnahmen fordert, ist das Aktivismus. Aber eine wissenschaftliche Stellungnahme zu unterschreiben, auf deren Basis dann Aktivismus fußt, ist etwas ganz anderes.

In der kommenden Staffel von „Maithink X“ geht es kaum um Klimawandel, dafür zum Beispiel um Bitcoin und Homöopathie. Wie wählen Sie die Themen aus?

Wir wollen gesellschaftlich relevante Themen behandeln. Manchmal liegen sie auf der Hand, weil sehr viel darüber diskutiert wird, zum Beispiel Atomkraft. Wir wollen aber auch eine journalistische Verantwortung erfüllen, indem wir über Themen sprechen, die vielleicht keine Quotenhits sein werden, weil man eben nicht so gern darüber spricht. Zum Beispiel Tierversuche oder Schwangerschaftsabbruch. Generell geht es uns darum, dass auch Menschen, die vielleicht nicht unbedingt nach einer Wissenschaftssendung suchen, hängenbleiben. Und dann doch aus Versehen was über randomisierte kontrollierte Studien erfahren.

Wie wichtig ist der Unterhaltungsaspekt in der Sendung?

Superwichtig. Wie viel ich selbst gelitten habe während des Studiums, in langweiligen Vorlesungen! Chemie ist ja so toll! Wie kann man etwas so verhunzen? Ich achte schon darauf, dass ein Gedankenfluss oder ein roter Faden nicht an einer wichtigen Stelle von einem Gag unterbrochen wird. Aber grundsätzlich, wenn man zum Beispiel gerade einen Gedanken abgeschlossen hat, warum nicht mal kurz eine Gehirnpause zum Lachen einlegen? So kann ich mir jedenfalls selbst Dinge besser merken.

Bereuen Sie manchmal, dass Sie nicht in der Forschung geblieben sind, oder spielen Sie mit dem Gedanken, noch mal zurückzugehen?

Der Zug ist abgefahren. Dafür ist Forschung viel zu anspruchsvoll, da geht eigentlich niemand länger als ein Jahr raus. Dafür ist das System auch nicht ausgelegt. Rational bereue ich es nicht. Aber manchmal habe ich schon nostalgische Gefühle, wenn ich ans Labor denke. Aber ich bin keine leidenschaftliche Spezialistin. Ich blühe eher auf, wenn ich ständig etwas Neues lernen darf.

Als Sie im vergangenen Jahr den Preis für die Journalistin des Jahres vom Medium Magazin angenommen haben, haben Sie darüber gescherzt, dass immer noch niemand Ihren Namen richtig aussprechen kann. Vor ein paar Wochen hat ein anderes Medium Sie mit der Moderatorin Minh-Khai Phan-Thi verwechselt. Wie sehr wurmt Sie das?

Ich stehe da drüber und finde es wirklich lustig. Ich habe ja tatsächlich einen schwierigen Namen! Aber es macht schon Spaß, ein bisschen damit zu sticheln. Ich habe auch mal ein Video über die viel diskutierte Frage „Wo kommst du her?“ gemacht. Ich habe für Menschen, die das fragen, generell viel Verständnis. Das liegt aber auch daran, dass ich persönlich keine schlimmen Erfahrungen mit Alltagsrassismus gemacht habe, sondern eben nur manchmal mit nervigen Klischees konfrontiert werde, über die man lachen kann. Aber das kommt natürlich sehr auf die persönliche Erfahrung an.

Haben Sie das Gefühl, der Diskurs dazu ist verhärtet?

Ja. So wie jeder Diskurs. Ich mag eigentlich keine Pauschalisierungen, aber in dem Fall empfinde ich das so. Ich wünsche mir grundsätzlich viel mehr Grautöne.

Neue Folgen von „Maithink X – Die Show“ laufen ab Sonntag, den 18. September, wöchentlich um 22:15 Uhr bei ZDFneo und ab 18 Uhr in der ZDF-Mediathek.