Kannibalismus ist niemals lustig. Das verdeutlicht die dreiteilige Dokumentation „House of Hammer“ eindringlich. Als vor einigen Monaten geleakte WhatsApp-Chats und Sprachnachrichten Armie Hammers auftauchen, in denen der Hollywood-Schauspieler explizite Fantasien äußert, sind sie es, auf die sich die Medien stürzen: die Gesprächsfetzen und Satzfragmente, in denen Hammer mehreren Exfreundinnen schildert, wie er ihnen die Haut abziehen und die Rippen grillen, ihre Herzen verspeisen wolle.
In den sozialen Medien verkommen die heftigen Gewaltfantasien zum billigen Witz – zotige Sprüche, Bilder von Armie Hammer als Hannibal Lecter, Lach-Smileys überall. Und womöglich verführt die Menschenfresserei tatsächlich zum schnellen Spaß, weil sie so fremd und unwirklich erscheint. Aber Kannibalismus ist eben nicht bloß ein Thema aus Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, nicht nur das antiquierte, rassistische Bild von ulkigen Inselbewohnern mit Menschenknochen in den Lockenhaaren. Kannibalismus ist eine überaus reale Form der Gewalt – in Deutschland wissen wir das nicht zuletzt seit dem aufsehenerregenden Fall aus Rothenburg, zuletzt auch durch einen Mordfall in Berlin.
Bei Armie Hammer, so zeigt die nun in Deutschland veröffentlichte Dokumentation, ist es zumindest in diesem Punkt wohl bei einer Wunschvorstellung geblieben. Dass aber diese in der Medienberichterstattung so sehr im Fokus steht, ist äußerst problematisch, weil der Schauspieler andere verstörende Gewaltfantasien offenbar sehr wohl auslebte – gegen den Willen seiner Partnerinnen. Davon erzählen diese in der dreiteiligen Doku, die nun bei dem Streamingdienst Discovery+ zu sehen ist: Drei Frauen berichten darin von unterschiedlichen Formen der Erniedrigung, von psychischer und körperlicher Gewalt, von Vergewaltigung. Hinzu kommen Zitate und Nachrichten vieler weiterer Frauen, die Hammer ähnliche Taten vorwerfen.

Das Muster soll immer dasselbe gewesen sein: Hammer, bis vor kurzem gefeierter Filmstar, gerade auch durch seine Hauptrolle im oscarprämierten Liebesfilm „Call Me by Your Name“, nutzte seinen Ruhm und seinen Status, auch sein gutes Aussehen, seine Macht aus, um Frauen für sich zu begeistern. Er schreibt sie auf den Plattformen der sozialen Medien an, lädt sie zu Dates ein und geht Beziehungen mit ihnen ein, drängt sie immer drastischer dazu, seinen Fantasien Folge zu leisten. Stets tut er das unter dem lackledernen Deckmäntelchen des BDSM, auch der japanischen Bondage-Kunst Shibari – ist doch alles nur Lust, alles nur ein Spiel.
Eine klare Trennlinie zwischen sexuellen Spielarten und echter Gewalt
Was aber die Dokumentation „House of Hammer“ aufs Beste leistet, ist dieses: Sie zieht klare Trennlinien zwischen der sexuellen Spielart und tatsächlicher Gewalt, bietet Aufklärung statt Bigotterie; sie begeht nicht den Fehler, schwammige Grenzen und flüssige Übergänge zu entwerfen. Eine professionelle Domina und BDSM-Lehrmeisterin etwa stellt heraus, welch wichtige Rolle Vertrauen und Einvernehmlichkeit gerade in diesem Bereich der Sexualität spielen. „Wenn eine Frau ihre Zustimmung entzieht und der Mann weitermacht, ist das ein Verbrechen“, sagt Gloria Allred, die Anwältin eines von Hammers Opfern – „so einfach ist das.“

Die Doku von Elli Hakami und Julian P. Hobbs verharrt aber nicht in den aktuellen Berichten über Armie Hammer, die derzeit weltweit so große Kreise ziehen. Sie vertritt die These, dass der Schauspieler bloß die Spitze eines familiären Eisbergs ist, der jüngste Spross einer brutalen Dynastie, ohne dies als Entschuldigung für irgendetwas gelten zu lassen. „Sein Verhalten hat tiefe Wurzeln“, sagt Casey Hammer, eine Tante des Stars. Gezeichnet wird das Bild einer Familie, in dessen Zentrum stets ein Patriarch steht, der mit der kommenden Generation vom nächsten gewaltbereiten Autokraten abgelöst wird.
Die Spendenaffäre Armand Hammers und des jetzigen Königs Charles III.
Armie Hammers Urgroßvater war Armand Hammer, Sohn eines Mitgründers der kommunistisch geprägten Socialist Labor Party of America und selbst Chef der amerikanischen Ölgesellschaft Occidental Petroleum, ein Multimilliardär, dessen Verbindungen bis ins Weiße Haus und den Buckingham-Palast reichten. „Ich erinnere mich, ihn einmal gefragt zu haben, warum er nicht selbst der Präsident der Vereinigten Staaten sei“, erzählt Casey Hammer, Armies Tante, Armands Enkelin. „Er lachte und sagte nur, dass in diesem Job nicht genügend Einfluss stecke.“ Auf eingeblendeten Fotos schüttelt Armand Hammer Papst Johannes Paul oder Ronald Reagan die Hand, er tanzt mit Prinzessin Diana – später wird dessen Mann und der jetzige König Großbritanniens, Charles III., in eine Spendenaffäre mit dem Ölmogul verwickelt sein.

Eine Machtgier, die der Großindustrielle auch zuhause ausgespielt haben soll. Alles im Hause Hammer soll er kontrolliert, seine Familienmitglieder per Überwachungskameras verfolgt haben. Casey Hammer, auch ein Biograf und ein Journalist berichten außerdem von psychischer und physischer Gewalt seinen Frauen, Exfrauen und Kindern gegenüber. Eine umfassende Brutalität, die Armand Hammer an seinen Sohn weitergegeben haben soll: Julian Hammer soll Frauen als Nutzgegenstand oder Ware kategorisiert, sie systematisch ausgebeutet und erniedrigt haben. Das stellt in der Dokumentation auch Cathe Boal, eine seiner Exverlobten, heraus. Casey Hammer, Julian Hammers Tochter, berichtet zudem von ausschweifenden Drogen-, Sex- und Gewaltexzessen, denen auch die Kinder beiwohnen; davon, dass ihr Vater sich an die minderjährigen Freundinnen seines Sohnes heranmacht, auch ihr selbst sexuelle Gewalt antut.
Die Familienstrukturen stehen exemplarisch für die patriarchale Gesellschaft
Auf Julian Hammer folgt Michael, sein Sohn, Armie Hammers Vater. Aus dessen privaten Räumlichkeiten wiederum war bereits vor Jahrzehnten ein Foto aufgetaucht, das Julian Hammers „Sex-Thron“ zeigt: ein herrschaftlicher Stuhl, unter dessen Sitzfläche ein Käfig und ein Fleischerhaken angebracht sind; andere Bilder zeigen, wie Julian Hammer auf selbigem Thron sitzt, während im Zwinger darunter eine junge Frau kauert. Auch Medienberichte über sektenähnliche Strukturen, in denen sich Armie Hammers Vater bewegt haben soll, gab es damals.
Überhaupt waren all die grotesken, schockierenden Episoden dieser Familiengeschichte schon vor der neuen Dokumentation bekannt: Fotografien, Zeitungsartikel und Zeugenaussagen, selbst Anzeigen und Gerichtsverhandlungen bezeugen das. Nur wurden sie vor der dreiteiligen Doku-Serie nie in eine geordnete Verbindung gebracht; nie wurde gezeigt, wie erschütternd und doch exemplarisch der Hammer’sche Familienzirkel auch für die patriarchale Gesellschaft an sich steht, in der Herrschaft, Geld und sexuelle Macht von Männern an Männer weitergegeben und untereinander verteilt werden; zu Gütern verklärt, über die nur durch sie und ihre Geschlechtsgenossen verfügt werden darf.
Dass die Doku „House of Hammer“, die in den USA seit ihrer dortigen Veröffentlichung vor zwei Wochen viele Medienberichte dominiert, diese Thematik allzu reißerisch erzählt, mit dramatischer Musik und schnellen Bildfolgen überfrachtet, sich ästhetisch stark am Boulevard orientierend, kann entschuldigt werden. Denn ihr gelingt, was an dieser Stelle wohl am wichtigsten ist: Sie geht mit den Zeuginnen und ihren Geschichten respektvoll und sensibel um.




