In J. R. R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“-Trilogie retten zwei Underdogs die Welt. Sie tun das mithilfe des wertvollsten und zugleich gefährlichsten Artefakts, den diese beherbergt, ehemals in Besitz des ultramächtigen Bösewichts Sauron.
Vor vier Jahren gingen in unserer Welt zwei andere Underdogs mit dem Besitz eines ultramächtigen Mannes (weitere Parallelen mag ziehen, wer will) auf riskante Mission, allerdings in dessen Auftrag. Eine Milliarde Dollar, und dieser Wert ist noch niedrig geschätzt, hat Amazon-Gründer Jeff Bezos den Drehbuchautoren J. D. Payne und Patrick McKay anvertraut, um damit etwas Besonderes zu schmieden: eine Serie, sie zu binden – am besten ewig, mindestens aber für fünf Jahre.
250 Millionen Dollar für die Rechte an Tolkiens Werk
Genau wie Samweis Gamdschie und Frodo Beutlin sind J. D. Payne und Patrick McKay Freunde seit ihrer Kindheit und ebenso lange Fans der beiden Hobbits und des Universums, in dem sie leben: Die Geburtsanzeige für seinen Sohn verfasste Payne sowohl auf Englisch als auch Elbisch.
Als Amazon 2017 mit dem Gebot von 250 Millionen Dollar für Tolkiens „Der Hobbit“ und die „Der Herr der Ringe“-Reihe unter anderem Netflix und HBO ausstach, war noch längst nicht klar, wo die Reise hingehen würde. Ausgerechnet Payne und McKay, zwei Drehbuchautoren Ende dreißig ohne nennenswerten Credit, erdachten ein Serienkonzept für fünf Staffeln, das Bezos, selbst Tolkien-Anhänger, überzeugte und sich letztendlich gegen all jene der prominenteren Mitbewerber durchsetzte.
Die beiden entwickelten ihre Geschichte auf Basis der circa 150 Seiten starken Anhänge, die auf das Ende von „Die Rückkehr des Königs“, dem letzten Teil der Trilogie, folgen. Diese beinhalten Zeittafeln, Stammbäume, Informationen zu Sprachen, Kulturen, in ihnen führt der Autor aus, wie die Welt zu der wurde, die Frodo und Sam schließlich vor dem Bösen bewahrten.
„Die Ringe der Macht“ spielt im darin beschriebenen sogenannten Zweiten Zeitalter, eine zunächst friedliche Epoche nach mehreren Jahrhunderten, die von Krieg und Terror geprägt waren. Frodo Beutlin wird erst Tausende Jahre später das Licht von Mittelerde erblicken. Anstatt sich, wie in diversen anderen Franchises in den vergangenen Jahren geschehen, auf eine beliebte Figur zu konzentrieren und deren Vorgeschichte zu erzählen, eröffnen die beiden Autoren eine komplett neue Erzählebene mit viel Raum für unterschiedliche Protagonisten – was durchaus im Sinne Tolkiens sein dürfte, dessen Werk auch als Appell an die Völkerverständigung gelesen werden kann. Damit waren auch Tolkiens Erben einverstanden, die sich trotz der hohen Kaufsumme ein Mitspracherecht vorbehielten.
Dass sich unter den Protagonisten trotzdem auch bekannte Gesichter, oder zumindest Namen, finden, ist der Tatsache geschuldet, dass Elben unsterblich sind, fast jedenfalls. Einen „natürlichen“ Tod werden sie nie erleiden, sie können aber an Kummer vergehen oder gewaltsam getötet werden. Für einen Elben dürfte also die Überwindung, in den Krieg zu ziehen, wesentlich größer sein als für einen Menschen, doch wenn das Böse droht, die Welt zu verschlingen, bleibt auch ihnen nichts anderes übrig. Ebendies steht zu befürchten, als das Elbenmädchen Galadriel, in Peter Jacksons Trilogie von Cate Blanchett gespielt, durch das paradiesische Elbenland Valinor schreitet und noch kein Wort für „Tod“ kennt. Ihr älterer Bruder ahnt dagegen schon Schreckliches und macht sich bald auf, um das dunkle Wesen Morgoth und seine Armee von Orks auf dem Schlachtfeld zu bekämpfen.

Die Menschen sind für das Böse am anfälligsten
Jahrhunderte später ist der Oberbösewicht Morgoth besiegt, doch sein treuester und mächtigster Diener Sauron treibt weiterhin sein Unwesen. Gezeichnet von Saurons Mal findet die mittlerweile ausgewachsene Galadriel (Morfydd Clark), nun selbst Kriegerin, die Leiche ihres Bruders und schwört Rache. Mit einer kleinen Gefolgschaft macht sie sich auf, um Sauron zu finden. Doch wieder vergehen Jahrhunderte und irgendwann sind auch die Elben überzeugt, dass der Sinn ihrer Mission nunmehr nur noch darin liegt, die Obsession ihrer Anführerin zu befriedigen, als wirklich eine Gefahr zu bannen. Und so brechen die Unsterblichen ausgerechnet dann, als sich wieder dunkle Vorzeichen bemerkbar machen, ihren Feldzug ab, in Vorfreude auf ein ruhiges Leben im Paradies.
Ebenfalls freudig auf den Abzug der Elben reagieren die Menschen. Aufgrund ihrer allzu bereitwilligen Kooperation mit Morgoth und Co. standen sie seit Kriegsende unter strenger Beobachtung der spitzohrigen Meisterschützen, was ein Großteil offenkundig bis heute als Unrecht oder zumindest Demütigung empfindet. Von naheliegenden Weltkriegs-Parallelen wollte der Autor, der 1916 in Frankreich an der Front kämpfte, übrigens nichts wissen, wie er 1966 im Vorwort einer überarbeiteten Ausgabe von „Der Herr der Ringe“ deutlich machte. Der Ursprung der Geschichte seien Dinge gewesen, die ihm schon lange im Sinn gelegen hätten oder sogar bereits niedergeschrieben waren, als der Krieg 1939 begann. Tolkien führte weiter aus: „Die Allegorie in allen ihren Formen verabscheue ich von Herzen, und zwar schon immer, seit ich alt und argwöhnisch genug bin, ihr Vorhandensein zu bemerken. Geschichte, ob wahr oder erfunden, mit ihrer vielfältigen Anwendbarkeit im Denken und Erleben des Lesers ist mir viel lieber. Ich glaube, dass ‚Anwendbarkeit‘ mit ‚Allegorie‘ oft verwechselt wird; doch liegt die eine im freien Ermessen des Lesers, während die andere von der Absicht des Autors beherrscht wird.“

J. A. Bayona, der bei den ersten beiden Folgen, die der Presse vorab zugänglich gemacht wurden, Regie geführt hat, inszeniert die Menschen in der Breite als schmutziges Volk, das hackt, säuft und pöbelt, doch es gibt Ausnahmen. Die Dorfheilerin Bronwyn (Nazanin Boniadi) hat ein sanftes Gemüt und ist mit dem Elbensoldaten Arondir (Ismael Cruz Córdova) in romantischen Gefühlen verbunden. Diese äußern sich zwar ausschließlich in vielsagenden Blicken und kurzen Gesprächen, sorgen im Dorf aber trotzdem schon für Tuschelei und Unmut. Auch an den Menschen gehen die dunklen Vorzeichen nicht unbemerkt vorüber. Eine Kuh, die auf der falschen Weide gefressen hat, gibt plötzlich schwarze Milch, und unter den Holzböden der Häuser kratzen nicht nur Mäuse.
Hobbits gab es im Zweiten Zeitalter noch nicht, wohl aber ihre Vorfahren, die sogenannten Haarfüßer. Das nomadische Volk führt ein Leben im Verborgenen, mit dem Rest der Welt wollen die grundfröhlichen Gesellen nichts zu tun haben. „Elben haben Wälder zu beschützen. Zwerge ihre Minen. Menschen ihre Weizenfelder. Aber wir Haarfüße sind füreinander da. Wir sind sicher“, muss sich Nori Brandyfoot (Markella Kavenagh) anhören, wenn sie mal wieder zu weit weggeht oder zu viele Fragen stellt. Als eines Nachts ein Feuerball vom Himmel fällt, mit einem mysteriösen Mann im Kern, betrachtet die junge Haarfüßerin das als klaren Wink des Schicksals, dass sie für mehr geboren wurde als ein sorgloses Leben im Kreis von Familie und Freunden.

Auch die Zwerge, das zweifellos sympathischste Volk von allen, werden wieder eine entscheidende Rolle spielen, denn ohne ihre Expertise hätte Sauron seine legendären Ringe nicht schmieden können.
Bilder, die ins Kino gehören
Dass ausgerechnet eine Geschichte aus dem vielleicht bekanntesten Franchise der Welt bei ihrem Erscheinen wie ein frischer Wind durch die Film- und Streaminglandschaft, jedenfalls deren Regionen mit den meisten Zuschauern, wehen würde, hätten sich Payne und McKay wohl nicht unbedingt träumen lassen. Während sich das „Game of Thrones“-Prequel „House of the Dragon“, wie auch schon das ultraerfolgreiche Original, in expliziten Gewaltorgien ergeht, mit komplexen, nicht selten zynischen Charakteren im Zentrum, und im Marvel-Universum jeglicher Pathos mit einem Augenzwinkern präsentiert wird, setzt „Die Ringe der Macht“ auf klare Moral mit höchstens leisen Zwischentönen. Vielleicht im Zusammenspiel der realen Weltlage und Ermüdungserscheinungen durch die gefühlt alles dominierenden Erfolgsformate der vergangenen zehn Jahre, hat diese fast naiv anmutende Erzählweise einen unglaublich wohltuenden Effekt.
Visuell ist die Serie ein derartiges Spektakel, dass ihre größte Tragödie eigentlich darin besteht, dass die Zuschauer sie nicht im Kino sehen können. Ähnlich dachten schon mal die Showrunner von „Game of Thrones“. Vor der Ausstrahlung der achten Staffel gab es mit HBO ernsthafte Diskussionen über eine Kinoauswertung, der Sender entschied sich schließlich dagegen.

Christian Bräuer, Chef der Yorck-Kinogruppe und Präsident des internationalen Verbands der Arthouse-Kinos CICAE, rechnet nicht damit, dass sich das demnächst ändern wird. „Der Erfahrung nach ist Exklusivität den Streamern wichtiger als potenzielle Zusatzerlöse einer Kinoauswertung“, sagte er auf Anfrage. Das gilt schon für Filme, serielle Formate stellen natürlich noch mal eine ganz andere Herausforderung dar. Laut Bräuer habe es 2018 den Plan gegeben, Folgen der zweiten Staffel von „Babylon Berlin“ vor der Ausstrahlung im Free TV ins Kino zu bringen, aber nachdem die Vorverkaufszahlen enttäuschend ausfielen, hätten die meisten Kinos die Vorführungen wieder abgesagt.
Auch Jeff Bezos wird eher wenig Interesse daran haben, „Die Ringe der Macht“ irgendwo anders als auf seiner Streamingplattform auszuwerten, die sich in ihrer Beschaffenheit noch mal sehr von den größten Konkurrenten Netflix und Disney+ unterscheidet. Mit einem Abo des „Prime“-Dienstes von Amazon können Kunden nicht nur streamen, sondern unter anderem auch schneller und ohne Versandgebühren Produkte auf der Plattform bestellen. Die investierte Milliarde muss also nicht ausschließlich über Abogebühren wieder reingeholt werden („muss“ sowieso nicht – Amazon machte 2021 über 33 Milliarden Dollar Gewinn), jeder Zuschauer, der Geld bezahlt, um wöchentlich neue Folgen der Tolkien-Serie zu schauen, tut das im unmittelbaren Umfeld des digitalen Supermarkts. Pünktlich zum Serienstart wurden die Kosten des Abos in Deutschland erhöht, in den USA bereits im März.
Ungeachtet dessen, von wem und wofür sie geschmiedet wurde: Jeff Bezos’ Kreation ist ein phänomenales Schmuckstück geworden. Ob es seinem Schöpfer dienen wird, wie der es sich vorstellt, oder vielleicht ganz andere Begehrlichkeiten in den Zuschauern weckt, wird ebenso spannend zu betrachten sein wie die Serie selbst.
Die ersten beiden Folgen von Die Ringe der Macht sind ab dem 2. September bei Amazon Prime Video abrufbar, danach kommt wöchentlich eine von insgesamt acht neuen Folgen dazu.










