Die Orte, an denen man laut sein kann, werden weniger. Eine Autobahn soll durch Ost-Berlin führen, würde den Kiez ums Ostkreuz zerschießen; dagegen protestierten am Wochenende Zehntausende Menschen. Ihre Wut ist verständlich, die bedrohten Orte – darunter der Club Ost, das About Blank – sind zentrale Stätten der Clubkultur dieser Stadt. Was die ARD-Doku „Exzess Berlin – Hauptstadt der Clubs“ aber zeigt: Clubs sind häufig Orte, die nicht bewahrt werden können. Was wir Nachtleben nennen, das berauschende Zusammenspiel aus Musik, Menschen und Farben, ist eine flüchtige Magie, sie lebt von der Energie der Leute, die sie erschaffen. Das ist kein Argument für den Ausbau der Autobahn, sondern ein Trost: Wie viel Beton auch aufgeschüttet wird, es gibt immer Menschen, die auf ihm tanzen.
Bevor er ein Club wurde, war der Tresor der Tresorraum einer Bank. Das SO36 war ein Supermarkt, und das About Blank die Kindertagesstätte der Reichsbahn. Das Roxy war ein Kino und ist heute ein Biomarkt. („Das ist sehr gesund, aber nicht sehr glamourös“, kommentiert Zazie de Paris, Fixstern des West-Berliner Nachtlebens.) Die Orte wandeln sich, die Stadt verändert sich, alles ist in ständiger Bewegung. Eine Konstante: der Wunsch von Menschen, sich zu berauschen, sich der Musik hinzugeben, den Farben, den Lichtern, den Körpern, den Drogen, in Fantasieräumen, die besser sind als die Wirklichkeit. Die Nacht – zumindest die Berliner Nacht – bietet einen Ausweg aus dem Alltag, einen Schutzraum für sichere Entgrenzung, für das Annehmen und Ausleben unterschiedlicher Identitäten.
Dass dies der Reiz vom Ausgehen ist, überrascht wohl ungefähr niemanden. Es ist ein wenig schade, dass „Exzess Berlin“, so viel Zeit damit verbringt, Menschen, die in Clubs gehen, Sätze sagen zu lassen wie: „Jeder hat die Möglichkeit, man selber zu sein.“ Dass Clubs Orte sind, an denen „Konventionen fallen gelassen“ werden, ist eine in Sachen Erkenntnisgewinn eher dünne Feststellung. Unterhaltsamer wird es, wenn diese Allgemeinplätze von Berliner Originalen wie Petra Schreiber, der Betreiberin der Hafenbar, geäußert werden. „Nachts macht dit Leben mehr Spaß als am Tag“, sagt sie. „Wenn ick nachts weggehe, möchte ich viel lachen, Farbe und Freude.“ Und flirten und schäkern. „Wann baggerst du denn jemand am Tag an?“
Leute aus vielen legendären Läden kommen zu Wort
Was „Exzess Berlin“ auszeichnet, ist die Menge und die Auswahl der Interviewten. Die Doku hat keinen Erzähler – am ehesten fällt diese Aufgabe Westbam zu, dem elder statesman der Berliner Clubkultur. Leute aus vielen legendären Laden sind vertreten, ehemalige und aktive: Britt Kanja vom 90 Grad, Alexandra Dröner vom Tresor, Lilo Unger und Nanette Fleig vom SO36, Eli Steffen vom About Blank, Simon Thaur vom Kit Kat Club. Dass diese ganzen Menschen davon überzeugt werden konnten, für diese Doku interviewt zu werden, ist ein Coup. Alles interessante Persönlichkeiten, in deren Gegenwart man gerne verweilt – wie sollte es anders sein? Dass sie aber häufig so wenig Erhellendes erzählen, spricht dafür, dass ihnen die falschen Fragen gestellt wurden.
Wie konnte dieses einzigartige Berliner Clubkultur-Biotop entstehen? Wie behaupteten diese Orte ihren anarchischen Geist gegen Kommerzialisierung und Partyhauptstadt-Branding? (Tun sie das überhaupt?) Wie hat sich die Musik verändert, wie haben sich die Leute verändert? Welche Drogen haben sie gekommen? Wie hat sich eine queere Partyszene gebildet, und war das in Opposition zur größeren Szene oder aus deren Geist heraus? Welche Rolle hat Aids gespielt? („Es gab noch kein Aids“, sagt Zazie de Berlin an einem Punkt über die guten alten frühen Achtziger; danach wird das Thema kein zweites Mal erwähnt.) Diese Fragen werden bestenfalls in vagen Slogans aufgegriffen, und noch häufiger gar nicht besprochen.
Der DJ Oliver Marquardt beschreibt die Wendezeit
Die Ausnahme zu dieser Betrachtung ist die Auseinandersetzung mit der Wendezeit. Wie die Clubkultur Ost-Berlins vor und nach dem Mauerfall aussah, wie im Technoclub Walfisch Punks, Queers und Hooligans gemeinsam tanzten, beschreibt der Musikproduzent und DJ Oliver Marquardt sehr interessant, während er im Auto die Schönhauser Allee entlangfährt. Auch Petra Schreiber aus der Hafenbar erzählt anschaulich von den letzten Jahren der DDR, wie sie sich den Anzug ihres Onkels überwarf, um sich irgendwie individuell zu kleiden und auf der Tanzfläche aufzufallen.




