Freitagabend in der Volksbühne. Die spielen schon eine Weile, und so langsam glaubt man, doch, so war es gemeint, ja, das macht wirklich Freude und holt einen ab, komisch, warum mag das wohl so geknallt haben bei der Probe am Dienstagabend? Dramaturgische Verwirrung ist ohnehin Paragraf eins der Hausordnung. Es wäre inhaltlich zu verknusen gewesen, dass Benny Claessens nicht auftritt, wenn man nicht gewusst hätte, dass er besetzt war und kurz vor der Premiere hingeschmissen hat.
Die Pressestelle gibt auch am Abend keine offizielle Auskunft, redet sich also immerhin nicht mit den althergebrachten „gesundheitlichen Gründen“ heraus. Die Produktionsdramaturgin trat vor der Vorstellung an die Rampe, um eine Ansage zu machen: Benny Claessens gehe es leider nicht gut, er könne an der Produktion nicht mehr mitwirken. Stattdessen übernehme Fabian Hinrichs, der mitspielende Regisseur der Produktion, Claessens’ Partien. Bald wird klar, dass man einen Abend dieser unverwüstlichen Art gar nicht zu retten braucht.
Wer wissen will, worum es geht, für den kommt ungefähr nach einer Stunde, in der man schon viel Schönes erlebt hat, eine inhaltliche Kurzzusammenfassung: „Der Verlauf des Verhängnisses soll hier schnell erzählt sein: König Sardanapal lehnt grundsätzlich die althergebrachte und sich immer wiederholende Form der Herrschaft durch Unterdrückung, Verstellung, Expansion, Lüge und Gewalt ab, vielmehr genießt, betrachtet, singt, küsst und träumt er. Statt andere zu töten, lebt er lieber.“
Mit dem Textbuch in der Hand
Dass das nicht gut gehen kann, ist sowieso klar, auch dem assyrischen König, der vor einer Verschwörung gewarnt wird, sich deshalb aber nicht vom Feiern abhalten lässt. Nein, nein, nein, niemals sage er ein Bankett ab: „Lass sie doch kommen und tun, was sie tun. Ich werde nicht zittern noch vorzeitig vom Essen aufstehen noch mein volles Glas stehen lassen noch mich nur mit einer einzigen Rose weniger schmücken noch eine frohe, glückliche, sinnliche, heitere, sexy, genüssliche Stunde verlieren, darauf verzichten.“
Fabian Hinrichs, von einer Stola und Kunstlocken umraffelt, holt Wein für sich, lässt mehr Wein bringen, hundert Portionen für das Publikum, verliert ein bisschen den Gedankenfaden, kriegt ihn aber doch immer wieder zu fassen und gezogen. Auch wenn es nicht so leicht ist, immer mit dem Textbuch in der einen Hand und mit Mikrofon, mit Weinkrug und -glas oder mit Lilith Stangenberg, die er aus dem Badezuber ziehen muss, in der anderen Hand. Was soll schon schiefgehen – außer alles? „Ich will keine Angst haben“, ruft er. Diesmal ohne in den Text zu blicken und nach jedem Wort einen Punkt setzend.
Fabian Hinrichs hat keine Angst. Sein Alter Ego tanzt zu lauter Musik, drängelt sich an der Supermarktkasse vor und lässt sich dann in aller Ruhe von der Kassiererin ihren Traum erzählen, die prompt aus ihrer Zelle ausbricht, sich eine Packung Katzenstreu durch die Hände und eine Flasche Mineralwasser über das Gesicht laufen lässt, sich dann auf den Brettern aalt, als läge sie am Südseestrand.
Die Träume von besagtem Hinrichs-Ego sind elaborierter: Er hört ein Orchester Chopin spielen, zweihundert Jahre zuvor, an einem Kamin am Genfer See in Gesellschaft der Eheleute Shelley. Er selbst ist niemand anderes als Lord Byron, der Verfasser der Tragödie des Sardanapal, siehe Zusammenfassung oben.
Es versteht sich von selbst, dass die Volksbühne alle seine Träume erfüllt. Es treten das Jugendsinfonieorchester des Händel-Gymnasiums auf, eine zwölfköpfige Tanzcompagnie und weitere Tänzer der Flying Steps. Es gibt Saxophonsoli, Sir-Henry-Pianokunst, Schwert- und Schlachtenchoreografien, Schmetterlingsformationstanz à la Friedrichstadt-Palast, Wagner-Vorhänge, Hardrockmusicaldiscokunstliedmedleymusik – die Hubmaschinerie schichtet Himmelstreppen auf, Scheiterhaufen brennen, der Orchestergraben gibt sich die Ehre als Euphrat, während der Volksbühnenkronleuchter einen Himmel voller Sterne blinken lässt. Es werden über hundert Leute gewesen sein, die sich schließlich verbeugten, dazwischen, barfuß, breit und glücklich lächelnd der Kaiser des Abends.
Es ist ein Theaterbankett, das des letzten assyrischen Königs würdig ist. Was die Fülle und Unbescheidenheit angeht, die dringliche Genussbereitschaft, aber auch den unbedingten Willen zur Unbesorgtheit. Es weht einen die Sehnsucht nach künstlerischer Freiheit an und nach schnellem Leben. Es scheint, dass man ihm fast einen Gefallen täte, wenn man ihn schlachtete. Stattdessen: Applaus. Und wenn Claessens nicht zurückkommt: Text lernen.





