Benjamin von Stuckrad-Barre ist wirklich unglaublich nett. Die Schlange der Menschen, die nach der Lesung im Berliner Ensemble am Mittwochabend eine signierte Erstausgabe seines pseudo-fiktiven Enthüllungsromans haben wollen, reicht bis ins Untergeschoss. Der Autor nimmt sich viel Zeit für seine Fans. Und trotzdem ist er nicht Taylor Swift. Leider.
Das Große Haus des Berliner Ensembles ist auch nicht die Mercedes-Benz-Arena. Schade. Die von fast allen nachdenklichen Hauptstadtjournalisten langersehnte Buchpräsentation fand zwar im (schon seit Dezember) ausverkauften Haus statt, aber eine größere Bühne wäre dann doch zu groß für diesen Abend gewesen.
Das lag nicht unbedingt an dem, wie gesagt, sehr netten Autor. Klar, Stuckrad-Barre ist nicht Christian Kracht, und Thomas Mann schon gar nicht. Schließlich schreibt er ein bisschen zu oft über sich selbst und seine Drogenprobleme. Trotzdem: Der Mann kann schreiben. Wer das infrage stellt, ist bösartig.

Wenig Relevanz in Zeiten von Wärmepumpen und Inflation
Es lag eher am Thema des Abends: Machtmissbrauch bei der Bild-Zeitung und im Hause Springer. Das sind in Zeiten von Wärmepumpen, Inflation und Frühjahrsoffensive in der Ukraine offenbar doch keine wirklich relevanten Themen für ganz Deutschland, so schlimm die Anschuldigungen gegen gewisse Herren auch sind, da muss man gar nichts beschönigen.
Dass gestern trotzdem viele schlecht angezogene Journalisten und sogar Kamerateams von ARD und ZDF ins Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm in Berlin-Mitte pilgerten, zeigt, wie die Journalistenblase der Hauptstadt in Zeiten des Niedergangs der Medien um eine nur noch flackernde Glühbirne brummt.
Ausnahmsweise fehlten an diesem Mittwochabend die kaufkräftigen Rentner auf den unbequemen Samtsesseln. Deren Geld wurde angehäuft in einer Zeit, in der Verlage 15 Prozent Umsatzrendite machten und finanzielle Sorgen noch völlig unbekannt waren. Deren üppige Pensionen halten, so ehrlich muss man sein, auch den immer einseitiger werdenden Kulturbetrieb der Hauptstadt wie eine Herz-Lungen-Maschine am Leben.
Der Rentner sorgt für Cashflow bei Bild und Spiegel
Nein, am Rentner vorbei, das zeigen auch die Wahlergebnisse der SPD, lässt sich in Deutschland weder Politik und schon gar kein Journalismus mehr machen. Denn der Rentner und sein Printabo im Briefkasten sorgen bei den meisten Verlagen immer noch für einen großen Teil des „Cashflows“. Wo der Rentner fehlt (oder stirbt), geht bald das Licht aus.
Und so ist Journalismus eine Nabelschau (wie übrigens auch die Lesung von Benjamin von Stuckrad-Barre), die als verpasste Chance betrachtet werden kann, die eigenen Geschäftsmodelle für die Zukunft fit zu machen.

Aber gehen wir mal direkt rein in den Abend. Ich habe für meine Pressekarte, trotz der schwindenden Relevanz meiner Branche, nichts bezahlt. Ich sitze in Reihe 4 Platz 11. Direkt vor mir sitzt Sven Regener (Sänger von Element of Crime und Autor von „Herr Lehmann“). Vor einer Woche habe ich den großen schweren Mann im strömenden Regen auf dem Mittelstreifen der Stalinallee gesehen. Heute hat er gekämmte Haare.
Direkt rechts neben mir auf Platz 12 sitzt Katja Riemann. Man kann die Schauspielerin („Die Apothekerin“) an dem Abend noch am ehesten als Prominente bezeichnen. Sie hat einen weißen Hosenanzug an und riecht stark, aber angenehm nach Parfüm. Den ganzen Abend wird sie sehr viel und sehr laut lachen, was ich wunderbar finde. Das ist schön und macht gute Laune.
Die Spiegel-Journalisten streicheln Stucki den Rücken
Die meisten Journalisten sind mir völlig unbekannt. Ein paar Gesichter kennt man dann aber doch. In der Mitte des Parketts sitzt der mächtige Medienjournalist Stefan Niggemeier wie ein Buddha und wartet stoisch auf den Beginn der Veranstaltung. Er ist ja schließlich nicht zum Spaß hier.
Direkt links neben mir sitzen, ein bisschen aufgekratzt, die Spiegel-Journalisten Tobias Rapp (mit schwarzem T-Shirt im braunen Anzug) und Isabell Hülsen (weiß gestärkter Kragen, im Stile einer strengen Gouvernante).
Stunden zuvor hatten sie das erste große Interview mit dem Autor veröffentlicht und fühlen sich deshalb – zu Recht – auch ein bisschen wichtig. Später nach der Veranstaltung werden die beiden Reporter Stuckrad-Barre fest in den Arm nehmen und ihm vertraut den Rücken streicheln. Hmm, sehr professionell.
Kokain: Drogenkonsum ist immer noch ein Tabuthema
Da kommt auch schon der Protagonist des Abends. Zum Falco-Hit „Out of the Dark“ (1998) springt Benjamin von Stuckrad-Barre auf die Bühne. Verbeugt sich artig und hampelt ein bisschen durch die Gegend, das wirkt unsicher und verletzlich, aber auch ein bisschen aufgesetzt. Aber irgendwie nett.
Er sei sehr aufgeregt, sagt er. Das ist verständlich. Stuckrad-Barre trägt, wie so oft, ein blau-weißes Matrosenshirt und eine weiße Jeans. Ein bemerkenswert fipsiges Outfit für einen 48-jährigen mit grauen Haaren. Fast wirkt der Pastorensohn ein bisschen kindlich.
Für die Zuschauer ist der zerbrechliche, aber energiegeladene Autor heute der Fisch im Aquarium. Auch weil viele Leute zwar koksen, aber dieses Thema – anders als der Autor – ungerne in der Öffentlichkeit ausbreiten. Schließlich ist Drogenkonsum immer noch ein Tabuthema.

Botschafter, Baustellen und eine Boulevardzeitung
Stuckrad-Barre fängt jetzt an zu lesen. Im ersten Kapitel seines Romans trifft eine junge Journalistin eines Boulevardsenders, der natürlich die Bild-Medien verkörpern soll, den nicht näher benannten amerikanischen Botschafter in Deutschland. Mit einer solchen Szene einen Roman über die Macht eines Boulevardmediums zu beginnen, ist interessant.
Man fragt sich, ob der Autor damit zeigen will, wie mächtig solche Medien doch sind. Dabei ist ein Botschafter, auch von einem großen Industriestaat, ja heute in Zeiten von direkter Kommunikation zwischen Regierungen meist nur noch eine Art Frühstücksdirektor. Und er wird nur dann wichtig, wenn es wie im Fall der Ukraine darum geht, ein paar Panzer öffentlich und medienwirksam zu fordern und auf den Tisch zu hauen. Wirklich mächtig sind dagegen andere Personen.
Im zweiten Kapitel, das der Autor vorliest, trifft der Protagonist des Romans seinen Freund, einen CEO eines großen Verlagskonzerns. Er schlendert mit ihm über die Baustelle der neuen Verlagszentrale. Es geht natürlich eigentlich um Mathias Döpfner. Die Schilderungen des Business-Bullshit des CEOs, der der Enge der Bundesrepublik schon längst entschwunden zu sein scheint, sind sehr lustig. Aber auch ein bisschen erwartbar. Business Clowns, die so sprechen, gibt es ja mittlerweile im mittleren Management jeder Firma.

Elon Musk: Das Sexleben des Tesla-Gründers ist bekannt
Die Beschreibungen einer zumindest mittelbar miterlebten Orgie (Gangbang) mehrerer Tech-Milliardäre aus dem Silicon Valley in einem Bungalow des Chateau Marmont in Los Angeles, in dem der Autor selbst viel genächtigt hat, sind wiederum ein bisschen zu einfach geraten. Die Beschreibungen sind zu nah an dem angelehnt, was durch Presseberichte inzwischen weitgehend ausgeleuchtet wurde, nämlich zu nah am Sexleben von Tesla-Gründer Elon Musk.
Die Schilderungen der Frauen, die sexuell und emotional vom Chefredakteur der Boulevard-Zeitung – der wohl an Julian Reichelt angelehnt ist (oder es einfach ist) – ausgelaugt werden, sind zwar drastisch, traurig, aber auch ein bisschen langatmig für diesen einen Abend.
Man fragt sich natürlich: Sind es die geschilderten mächtigen Charaktere, die hier Schuld auf sich laden? Oder ist es das geschilderte System der Boulevardzeitung dahinter? Oder einfach beides?
Im Interview mit den Spiegel-Journalisten Rapp und Hülsen sagt Stuckrad-Barre, dass ihn „Macht und das Magnetfeld um sie herum“ interessieren. Und dass Macht und Geld Herausforderungen für den Charakter seien. Man fragt sich, wie das zu seiner eigenen Verbindung zum Springer-Konzern passt. Über Jahre zog der Autor ja als eine Art Patensohn des Konzernchefs Döpfner durch das Land und verdiente durch Springer fürstlich. Wohl Millionen.
Von Springer geliebt: der undankbare Patensohn
Ein ehemaliger Springer-Manager brachte diese Symbiose von Stuckrad-Barre in ein paar Tweets am Mittwoch auf den Punkt. 2015 habe es der Autor auf einer Springer-Führungskräftetagung doch genossen, „Döpfners Liebling“ zu sein. Auch wenn man sich inzwischen nicht mehr verstehe, begleiche man offene Rechnungen nicht in einem Roman, so der Manager sinngemäß. „Insbesondere nicht, wenn man zehn Jahre lang als Schmuckeremit monatlich (!) mit einem mittleren fünfstelligen (!) Beitrag nach Hause gegangen ist.“

Man fragt sich, warum Stuckrad-Barre nicht schon viel früher das System Springer hinterfragte oder Kritik übte. Die neue Wokeness und die aufopferungsvolle Hilfsbereitschaft des Protagonisten seines Romans (oder seine eigene) gegenüber der Gruppe von Opfern wirken da zumindest schräg.
In diesem Zusammenhang liest sich heute auch ein Abschnitt aus Stuckrad-Barres Schlüsselroman „Panikherz“ nach #MeToo. Dort beschreibt der Protagonist (oder Stuckrad-Barre selbst) seine Beziehungen zu psychisch erkrankten oder mindestens labilen Mädchen und jugendlichen Frauen in einer Klinik.
In „Panikherz“ knutscht der Protagonist mit jungen Frauen
Dort ist der Ich-Erzähler wegen seiner Drogensucht und Essstörungen einer der wenigen Männer. Es heißt: „Rasch hatte ich meine Rolle gefunden, der lustige Onkel, der ältere Bruder. Kleinere entzückend harmlose Romanzen, nächtliche Balkonbesuche, bisschen knutschen, erschrocken zusammenfahren und sich totstellen, wenn man meinte, auf dem Flur was zu hören: Krankenschwesterkontrollgang? (…) Die Mädchen hatten Taschengeld, ich hatte eine goldene Kreditkarte.“
Wie gesagt, „Panikherz“ ist autobiografisch und doch nur ein Roman. Das ist Stuckrad-Barres Trick. Das Interview im Spiegel jedenfalls trägt den Titel: „Ein Roman kann wahrer sein als die Wirklichkeit“.
Man kommt bei sowas ganz zwangsläufig auf einen sakralen Gedanken: Jeder Bibelleser weiß, in der Heiligen Schrift gibt es keine komplett normalen, unschuldigen Menschen. Die einen sind eben schuldiger als die anderen. Doch die Frage, wer welche Rolle ausübt, ist im echten Leben schwerer zu beantworten als in der Fiktion. Daher: Wer wirft den ersten Stein? Heute ist es auf jeden Fall Benjamin von Stuckrad-Barre.







