Musiktheater

Durchdrehender Schmerzklang: „Hamlet“ an der Komischen Oper

Die Komische Oper liefert mit „Hamlet“ von Ambroise Thomas, inszeniert von Nadja Loschky, die beste Produktion der Spielzeit.

Jens Larsen als Der Geist, Huw Montague Rendall als Hamlet und Liv Redpath als Ophélie (v.l.) in „Hamlet“, inszeniert von Nadja Loschky an der Komischen Oper
Jens Larsen als Der Geist, Huw Montague Rendall als Hamlet und Liv Redpath als Ophélie (v.l.) in „Hamlet“, inszeniert von Nadja Loschky an der Komischen Operimago

Mit einem großen Abend war nicht unbedingt zu rechnen. „Hamlet“ von Ambroise Thomas war 1868 ein Riesenerfolg und ist seit Jahrzehnten zu den Akten gelegt, sodass man das Stück für eine entzauberte Eintagsfliege halten könnte. Und dann sieht man am Sonntag eine Produktion, wie man sie in Berlin lange nicht mehr erlebt hat, auch nicht an der immer für eine Überraschung guten Komischen Oper Berlin.

Selten hat man den Eindruck, dass eine Inszenierung samt der Musik so rundum durchdacht wurde wie hier von der Regisseurin Nadja Loschky und der Dirigentin Marie Jacquot. Mag sein, dass dem Stück damit geholfen wird, aber vielleicht bedurfte es nur eines zeitgemäßen und dennoch angemessenen Zugangs – hier ist er gefunden, wobei „zeitgemäß“ hier eine formale Größe ist und keine inhaltliche. Loschky „aktualisiert“ nicht im Sinne allgegenwärtiger Emanzipationsdiskurse. Sie schafft, was schwieriger ist, eine Sprache, in der sich Thomas’ Musiktheater als aktuell erleben lässt.

Doppelgänger und stilistische Brüche

Thomas, ein Zeitgenosse Wagners, schrieb mit „Hamlet“ ein Werk zwischen Grand Opéra und Drame lyrique. Die Tradition der großen musiktheatralischen Staatsaktion à la „Guillaume Tell“ oder „Les Huguenots“ eröffnet und beschließt das Werk – am Beginn steht die Hochzeit der Königswitwe Gertrude mit dessen Bruder Claudius, am Ende wird Hamlet zum neuen König ausgerufen. Aber dieser Rahmen bröckelt zugunsten der melodramatischen Geschichte von Ophélie und der selbstquälerischen Innenschau des Titelhelden. Thomas wählte sich also einen Stoff, der zu seiner hybriden Formidee passte.

Loschky deckt diese nicht mit sich identische Form der Oper in ihrer Inszenierung auf durch Doppelgänger der Hauptfiguren, stilistische Brüche der von Irina Spreckelmeyer gestalteten Kostüme zwischen den Dienstmützen des Hofstaats und Bischofs-Mitra, zwischen dem Renaissance-Gewand von Hamlets dazuerfundenem und stummem Narren Yorick – Kjell Brutscheidt darf gleichwohl noch vor der Ouvertüre ein Lied singen – und Hamlets bleichen Romantiker-Hemden, zwischen historischer Szene und grauen Herren mit Melone, Stockschirm und Aktenkoffern, die einer Agentur des Todes gleich immer wieder über die Szene wandern.

Sand in der Wand

Der Schauplatz selbst, entworfen von Etienne Pluss, ist als Treppenhaus eines Schlosses ein Ort zwischen Repräsentation und Privatgemach. Nach einer Wahrheit schürfend, werden Hamlet und der Narr nach Markierung durch einen grauen Herren die Wände aufhacken und schwarzen Sand zutage fördern – die zweite Hälfte spielt in einem bereits stark beschädigten Schloss.

Wem hier zu trauen ist, wer hier verrückt ist, wer schuld ist – diese Frage hat die Oper aus dem Drama übernommen, ein wenig eingekocht und dabei Szenen von hoher musikalischer Originalität provoziert: Hamlets kriminologisches Schauspiel wird mit Saxophon begleitet, seine Abrechnung mit der Mutter ist eine aufregend zerrissene Szene, die Loschky drastisch auf ihren ödipalen Kern bringt. Ophélies große Wahnsinnsszene beginnt mit dem ländlichen Traumballett ihrer Hochzeit – die Doubles führen hier einen von Thomas Wilhelm choreografierten Tanz auf, dessen rührender Anmut man sich nicht entziehen kann.

Viele Opfer, knapper Jubel

Was Liv Redpath als Ophélie danach leistet, ist schier sensationell: Im Moment schaltet sie um von elegischer Melodik oder freundlichem Tändeln zu abgerissenen Koloraturen. Der anfängliche, sehr unschuldige Klang beginnt im Moment ihres Durchdrehens vor Traurigkeit zu schmerzen. Bei ihr wie auch bei Huw Montague Rendall in der Titelpartie merkt man vom ersten Ton an eine besondere Fokussierung der Stimme auf die Rolle, sofort ist klar, was für Facetten diese Charaktere umfassen. Rendalls Bariton, von melancholisch umflortem Klang und doch auch von großer Kraft, ist mit einer Fähigkeit zur dynamischen Zurücknahme gesegnet, der für das Temperament dieser Figur kennzeichnend ist: So zieht sich Hamlet immer wieder von seinen Plänen und Versprechungen zurück. Wenn er am Ende – man spielt den Schluss der Erstfassung – Claudius doch noch ersticht und zum König ausgerufen wird, ist das entgegen dem knappen Jubelchor kein Triumph, sondern das Ergebnis eines Kampfes mit zu vielen Opfern.

Neben diesen unglaublich kultivierten, stilsicheren und jungen Sängern laufen auch Ensemblemitglieder wie Karolina Gumos als Gertrude und Jens Larsen als Geist von Hamlets Vater zur Hochform auf, erwähnenswert ist José Simerilla Romero in einem kurzen, aber prägnanten Auftritt als Laërte; selbst der etwas trockene Bariton von Tijl Faveyts ist in der schurkischen Partie des Claudius angemessen besetzt.

Worauf es ankommt

Marie Jacquot findet mit dem Orchester der Komischen Oper einen sehr individuellen Klang mit transparenten Streicherteilungen; sie hält die Spannung auch in den ausgedehnten lyrischen Passagen und staffelt die Höhepunkte souverän – er fällt der finalen Erscheinung des toten Vaters zu. Lediglich der Chor vermag nicht recht zu glänzen in dieser Produktion, vielleicht steht er akustisch nicht günstig.

„Hamlet“ ist die beste Berliner Opernproduktion dieser Saison – nicht weil uns das Stück etwas zu sagen hätte, sondern weil sie künstlerisch wie ein Uhrwerk funktioniert, und das ist wichtiger.

Hamlet 23., 28. April, 6., 14., 20., 31. Mai in der Komischen Oper, Karten und Anfangszeiten unter komische-oper-berlin.de