Die einzigen Menschen, die Richard Strauss’ Oper „Die Frau ohne Schatten“ ernst nehmen, sind vermutlich Dirigenten. Dieses Monstrum aufzuführen – Riesenorchester, ein Farbenreichtum ohnegleichen, Pathos im dreifachen Forte und im Hunderterpack –, muss man sich als eine reichlich mit Spaß belohnte Herausforderung vorstellen. Die Aufführung der Berliner Philharmoniker am Freitag mit Kirill Petrenko am Pult vermittelt den Spaß mit Lautstärken, die an Körperverletzung grenzen; das Orchester ist hoffentlich gegen zivilrechtliche Ansprüche aufgrund von Knalltraumata, Hörstürzen und Tinnitus gut versichert.
Um als Hörer an der „Frau ohne Schatten“ Vergnügen zu finden, empfiehlt sich eine ironisch abgeklärte Haltung. Hugo von Hofmannsthals Ambition einer Über-„Zauberflöte“, eines „Faust III“, eines Mega-„Parsifal“ ist deutlich und schon ziemlich lustig. Dass der ganze symbolisch-fantastisch-metaphorische Aufwand in einer Apologie der Kleinfamilie endet, in der Verteidigung dessen, was doch meist eine eher bescheidene Realität ist, verleitet zum wiehernden Schenkelklopfen.
Der wandernde Uterus
Die „Frau ohne Schatten“ hebt an, die Geschichte der deutschen Oper zu krönen, die eben von den abstrusen Vieldeutigkeiten namens „Zauberflöte“ und „Parsifal“ gerahmt wird, und endet in eindeutiger, faustisch durch Stimmen von oben und bedeutungshubernde Felslandschaften aufgeblasener Spießigkeit. Wie nahezu jede deutsche Oper ist sie geprägt von Misogynie – während aber Mozart und Wagner „das Weib“ von mehreren Seiten betrachten, scheint Hofmannsthal der historischen medizinischen Ansicht anzuhängen, dass der Uterus durch den Frauenkörper zu wandern beginnt, wenn er nicht regelmäßig mit Sperma befüllt wird: Eine Frau, die nicht gebärt, wird hysterisch, ist kein richtiger Mensch und wirft daher auch keinen Schatten.
Am Ende nimmt die schattenlose Kaiserin und Tochter des Geisterfürsten nicht einfach der unglücklich verheirateten Färberin ihren Schatten ab, sondern erreicht durch viel mitleidiges Gebarme, dass die Färberin und ihr Mann Barak wieder zusammenfinden – und das wird dann, warum auch immer, mit einem Schatten und einem Chor der noch nicht geborenen Kinder belohnt.
Was kommt nach der Übernutzung?
Dass derlei verstiegener Unfug bei der Uraufführung ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs bizarr antiquiert wirkte, blieb nicht einmal den Autoren verborgen, die sich sonst selbstverständlich gegenseitig Großkünstler-Orden an die Brust hefteten. Strauss zog es vor, das Libretto mit zuweilen groteskem kompositorischem Aufwand eher zu dekorieren, als dessen Kern zu fokussieren – und wahrscheinlich war das eine richtige Entscheidung. Wenn am Ende des dritten Akts alle musikalischen Mittel durch Übernutzung erschöpft sind, bleibt Strauss als letzte Möglichkeit nur noch, die Kaiserin in der entscheidenden Szene sprechen zu lassen.
In Petrenkos Aufführung spürte man jedenfalls, dass das Sprechen die letzte mögliche Steigerung darstellt: Für die Sängerin ging es weder höher noch tiefer, für das Orchester nicht mehr lauter oder komplizierter, die Kontraste zum Leisen sind ebenso ausgemessen wie die zum Einfachen. Ungeachtet ihrer Phonstärke war Petrenkos Aufführung durchaus strukturiert, und auch das Laute sollte wohl den Sinn haben, alle Stimmen der oft genug überdrehten Polyphonie hörbar zu machen. Man lauscht staunend, was Strauss da so alles aufeinandertürmt, und weiß nicht recht, ob er das ernst meint oder sich damit nicht auch über die wichtigtuerischen Symbolexzesse dieses Kunstmärchens lustig macht.
Zwei Primadonnen
Dennoch waren die exzessiven Klangexpositionen nicht ganz nachvollziehbar. Sänger und Orchester hatten nun drei Aufführungen in Baden-Baden, diese Souveränität bemerkt man sofort. Petrenko weiß, wohin er die Phrasen führen muss, das Orchester ist exzellent geprobt und klingt wunderschön – alles Faktoren, die den Mitwirkenden die Möglichkeit eines weit gefächerten dynamischen Spektrums an die Hand geben. Indem er hin- und mitgerissen immer wieder mit kürzestem Anlauf auf die Extrempunkte stürmt, nimmt sich Petrenko die Möglichkeit, Höhepunkte zu staffeln und die durchdachte Dramaturgie seiner Interpretation wirklich zur Erscheinung zu bringen.
Die Besetzung der „Frau ohne Schatten“ gilt als Herausforderung. Die Färberin mag, in der Nachbildung von Verhältnissen im deutschen Singspiel, gesellschaftlich unter der Kaiserin stehen, die stimmlichen Herausforderungen jedoch sind genauso extrem. Es bedarf also zweier Primadonnen, und Petrenko hat mit Elza van der Heever als Kaiserin und Miina-Liisa Värelä als Färberin zwei eminente Sopran-Stars gewinnen können, die sowohl den gewaltigen Stimmumfang als auch die nötige Schlagkraft für die Partien mitbringen – und dazu noch enorm gut klingen und ihre Rollen eindrucksvoll charakterisieren.


