Geschichte

Die besten deutschen Schriftsteller wurden vertrieben: Gedanken zum Tag des freien Buches

Die Nazis warfen die Schriften ihrer Gegner am 10. Mai 1933 in Berlin und anderswo auf Scheiterhaufen. Publikumswirksam wird jetzt daran erinnert.

Für den Schriftsteller Alfred Döblin war Berlin die Stadt seines Lebens. Am 28. Februar 1933 verließ er abends seine Wohnung am Kaiserdamm und kehrte erst nach Kriegsende wieder zurück.
Für den Schriftsteller Alfred Döblin war Berlin die Stadt seines Lebens. Am 28. Februar 1933 verließ er abends seine Wohnung am Kaiserdamm und kehrte erst nach Kriegsende wieder zurück.picture alliance/ullstein bild

Erst war es nur das private Leser-Interesse, das den Journalisten Jürgen Serke dazu brachte, Schriftsteller aufzusuchen, die von den Nazis aus der deutschen Kultur verbannt wurden und die in der Nachkriegszeit kaum noch jemand kannte.

Etliche der Autoren, deren Bücher am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin und in anderen deutschen Universitätsstädten von Studenten und SA-Männern in publikumswirksamer Inszenierung auf Scheiterhaufen geworfen wurden, waren vergessen. Sie hatten in der Bundesrepublik Deutschland keine Verlage mehr.

Und in der DDR, wo es einiges Bemühen gab, antifaschistische Literatur zugänglich zu halten, etwa von Anna Seghers und Heinrich Mann, Oskar Maria Graf und Erich Maria Remarque, behinderte doch auch der verengte Blick die Anerkennung der Verfemten in der Breite.

Jürgen Serke erzählte seinem damaligen Chefredakteur beim Stern, Henri Nannen, Anekdoten über die vergessenen Schriftsteller, die ihn interessierten, schreibt er im Nachwort seines Buches „Die verbrannten Dichter. Lebensgeschichten und Dokumente“. Es ist jetzt bei Wallstein herausgekommen, eine erweitere Wiederauflage der Ausgabe von 1977, für viele Leser heute eine Erstbegegnung. Groß und schwer wie ein Museumskatalog ist dieser Band.

Eine Serie im Stern – in Millionenauflage

„Mensch, Serke, das ist doch eine Serie!“, soll Nannen ihm gesagt haben. „Nehmen Sie sich morgen einen Fotografen und kommen Sie in einem Jahr wieder.“ In einem Jahr! Heute sind Reporter dankbar, wenn sie mehr als ein paar Tage für ein Thema zur Verfügung haben. Ob Henri Nannen in den letzten Kriegsjahren wirklich bloß Wehrmachtssoldat war oder selbst NS-Propagandatexte schrieb, wie Journalisten des NDR kürzlich recherchierten, konnte Serke damals nicht wissen, zumal dies die Rolle seines Chefs für jene Arbeit nicht schmälert. Der Stern, der heute eine Auflage von wenig mehr als 300.000 Exemplaren hat, verkaufte 1976 fast zwei Millionen Hefte pro Woche. Acht Jahre vor der Veröffentlichung der gefälschten Hitler-Tagebücher war das Magazin eine journalistische Macht.

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Das Buch und Termine
Jürgen Serke: Die verbrannten Dichter. Lebensgeschichten und Dokumente. Wallstein, Göttingen 2023. 364 Seiten, 38 Euro.

Durch Licht zur Nacht. Eine Veranstaltung der Staatsbibliothek. Claudia Roth, Klaus Lederer, Maxim Leo u.a. lesen Literatur, die während der NS-Zeit indiziert wurde. Nasir Ahmad Nadeem und Meral Şimşek ergänzen den Blick in die Vergangenheit mit eigenen Texten. 10.5., 11.30–13.30 Uhr, Bebelplatz, Berlin.

Lesen gegen das Vergessen. Veranstaltung der Partei Die Linke in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mit Knut Elstermann, Christian Grashof, Gregor Gysi, Beate Klarsfeld u.a., 10.5., 17–18.30 Uhr, Bebelplatz, Berlin.

Verratene Freiheit. Die Akademie der Künste, die Bücherverbrennung und die Folgen. Lesungen und Gespräch mit Ursula Krechel, Thomas Lehr, Eva Menasse, Julius H. Schoeps, Ingo Schulze und Jeanine Meerapfel. 10.5., 19 Uhr, Akademie der Künste, Berlin, Pariser Platz 4. Tickets: Tel. 030 200 57-1000, ticket@adk.de

Serke löste etwas aus mit seinem Buch. „Die verbrannten Dichter“, schreibt er selbst, wurden „zu einem Gattungsbegriff für eine ganze Literatur“. Dreizehn ausführliche Porträts enthält sein Buch, Lebens- und Werkgeschichten etwa von Ernst Toller und Erich Mühsam, Else Lasker-Schüler und Klabund. Außerdem kurze Hinweise auf Bücher, die in den 20er-Jahren Gesprächsstoff waren und mit schwarzen Listen der Nazis aus den Buchhandlungen und Bibliotheken verschwanden. Serke spürt die Wendepunkte in den Biografien auf, stellt Liebesbeziehungen heraus; man merkt, dass er ein großes Publikum zu interessieren suchte. Aber er zitiert auch Gedichte, Romanpassagen, Briefe.

Am beeindruckendsten sind jene Porträts, die nicht nur aus Materialrecherche und Gesprächen über die Dichter entstanden, sondern aus der Begegnung mit noch Lebenden. Das Vertrauen von Claire Goll, der Witwe Ivan Golls, musste Serke sich durch mehrere Besuche in Paris verdienen. Irmgard Keun verlangte, dass nicht nur sie, sondern auch der Reporter Alkohol trinke bei ihrem Treffen.

Alfred Kantorowicz spricht auf einer Kundgebung vor der Humboldt-Universität in Berlin am 10. Mai 1947.
Alfred Kantorowicz spricht auf einer Kundgebung vor der Humboldt-Universität in Berlin am 10. Mai 1947.United Archives/Imago

Das heißt aber nicht, dass der Autor das Werk der Keun geringschätzt, er schreibt: „Nicht Thomas und nicht Heinrich Mann, nicht Ernst Toller und nicht Walter Hasenclever, nicht Johannes R. Becher und nicht Anna Seghers schrieben den großen Roman mit der besten psychologischen Deutung des kleinen Mannes im NS-Staat. Es war Irmgard Keun mit ihrem Buch ,Nach Mitternacht‘, das 1937 bei Querido in Amsterdam erschien.“ Keun erlebte zwar auch, wie ihre Bücher verboten wurden, hoffte dennoch bis 1936, in Deutschland bleiben zu können. Serke schreibt: „Sie hatte gesehen, wie sich die Menschen in der Diktatur eingerichtet, wie sie aus ihr Nutzen gezogen, wie sie sich ihr angepasst hatten.“

„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen“, sagte Erich Kästner 25 Jahre nach dem Autodafé auf einer Tagung des deutschen PEN-Zentrums. In seinem erhellenden Buch „Februar 33. Der Winter der Literatur“ verweist Uwe Wittstock auf die Wochen davor und damit auch auf das unwürdigste Kapitel in der Geschichte der Berliner Akademie der Künste. Am 13. März 1933 tagten die Mitglieder der Abteilung für Dichtkunst am Pariser Platz, sie sollten sich verpflichten, auf „eine öffentliche politische Betätigung gegen die Regierung“ zu verzichten, gar „loyale Mitarbeit“ zusagen.

Autoren wie Ricarda Huch, Thomas Mann und Alfred Döblin traten aus, zahlreiche jüdische Mitglieder wie Leonhard Frank und Franz Werfel wurden ausgeschlossen. Ricarda Huch, die als konservativ galt, musste geradezu um ihren Austritt kämpfen. Uwe Wittstock zitiert aus einem kompromisslosen Brief von ihr: „Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll.“ Als hätte sie geahnt, dass das Wort „undeutsch“ in den „Feuersprüchen“ vom 10. Mai 1933 zur zentralen Vokabel werden würde.

Dokumente von ihr, Heinrich Mann, Bertolt Brecht und anderen werden am Mittwoch, dem 10. Mai, im Neubau der Akademie der Künste am Pariser Platz in Vitrinen gezeigt. Am Tag des Gedenkens an die Naziaktion „wider den undeutschen Geist“ erinnert eine Veranstaltung an die ausgeschlossenen und ausgetretenen Mitglieder. Der Titel „Verratene Freiheit“ deutet darauf hin, dass es auch um die Rolle derjenigen gehen wird, die sich den Nazis zu Diensten zeigen wollten.

Alfred Kantorowicz und die politischen Zwänge

Bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemühten sich Autoren darum, den 10. Mai zu einem „Tag des freien Buches“ zu machen. Einer, der sich sehr dafür einsetzte, Alfred Kantorowicz, hatte im Dezember 1947 ein Buch veröffentlicht, das man den Vorläufer zu dem Band von Jürgen Serke nennen kann: „Verboten und verbrannt. Deutsche Literatur – 12 Jahre unterdrückt“. Wie ein Lexikon zählt es die Namen der von den Nazis verbotenen, verjagten, in den Selbstmord getriebenen, in Konzentrationslagern ermordeten Autoren mit wenigen biografischen Daten und jeweils einem Textbeispiel auf: 250 Schriftsteller, „nahezu die gesamte qualifizierte Literatur“ Deutschlands.

Sein Beispiel zeigt, wie kompliziert Verhältnisse für Schriftsteller weiterhin sein konnten: Kantorowicz kam 1946 aus dem Exil in den USA zurück, trat der SED bei, wurde Professor für neue deutsche Literatur an der Humboldt-Universität Berlin. Als er fürchtete, im Zuge der Reaktionen auf den Aufstand in Ungarn in der DDR verhaftet zu werden, ging er 1957 nach West-Berlin. Der Tag des freien Buches aber wurde in der DDR weiter am 10. Mai begangen, im Westen führte der Börsenverein des deutschen Buchhandels ihn 1983 ein. Heute, im vereinten Land, gibt es mehrere Verlage, die sich um das Erbe der Exil-Autoren verdient machen. 90 Jahre nach der Errichtung der Scheiterhaufen gibt es am Mittwoch an vielen Orten Gedenkveranstaltungen. Die Einladung zum Lesen steht.