Die Stadt gleicht einer Geisterbahn: Die Friedhöfe von Medellín, Kolumbien? Derart überfüllt, dass Geister ausschwirren und sogar Sex mit Menschen haben. Oder besser gesagt: mit den Lebenden. Das Bild, das Regisseur Theo Montoya in seinem Essayfilm „Anhell69“ von seiner Heimatstadt zeichnet, ist tief apokalyptisch, aber dennoch auch sehr sinnlich, nachtlebendig. Erzählt wird auf zwei Ebenen: Zum einen sehen wir Casting-Aufnahmen, die Montoya 2017 wirklich so gemacht hat. Vor der Linse hat er Menschen aus dem Freundeskreis: Dragqueens, Gelegenheitsprostituierte und andere Queers. Es ist das Casting für Montoyas Geister-B-Movie, das „Anhell69“ heißen soll, benannt nach dem Instagram-Namen seines Hauptdarstellers.
Doch der kommt eine Woche später zu Tode an einer Überdosis Heroin. Also sehen wir, im Wechsel mit den Casting-Szenen einen Spielfilm, der niemals zustande kam. Oder irgendwie dann doch, nur anders als geplant. Es ist kompliziert. Montoya zeichnet in seinem fantastisch montierten Essayfilm das Porträt einer kolumbianischen Jugend ohne Hoffnung, ohne Zukunft, ohne Gott, dafür mit Geistersex. Eine durchaus politische Allegorie. Der Film lief 2022 umjubelt in Venedig. Auf dem Dok Leipzig gewann er den Hauptpreis.
Und nun ist „Anhell69“ auch einer von 25 Filmen beim 5. Queerfilmfestival in Berlin. Wobei Berlin nur die halbe Wahrheit ist: Das Festival steigt parallel in zwölf (!) Städten: Leipzig, Dresden, Halle (Saale), aber auch Köln, München, Frankfurt, Wien. Unter anderem. Zu sehen gibt’s so einige queere Publikumslieblinge von den Filmfestivals in Toronto, Venedig, aber auch dem Sundance und der Berlinale. Regulär im Kino angelaufen sind sie aber alle noch nicht.
Wobei manchen der Sprung auf die große reguläre Leinwand schon bald vergönnt ist: „Orlando“ etwa startet am 14. September in Deutschland im Kino – ist aber vorher schon auf dem Queerfilmfestival zu sehen. Im Rahmen der Berlinale wurde er (völlig zu Recht!) mit dem Teddy Award gekrönt, dem wohl wichtigsten queeren Filmpreis der Welt. „Orlando“ ist die (wie es auch im Untertitel heißt) „politische Biografie“ vieler Orlandos, also geschlechtlich fluider Menschen: trans, nicht-binär und vieles mehr. Regisseur Paul B. Preciado (auch bekannt durch seine bei Suhrkamp erschienene Kolumnensammlung „Ein Apartment auf dem Uranus: Chroniken eines Übergangs“) nimmt den wahrlich bahnbrechenden „Orlando“-Roman von Virginia Woolf (1928) und gewissermaßen auch die quasiautomatisch mitgedachte Verfilmung mit Tilda Swinton kunstvoll wie berührend als Folie, um sie mit den Erfahrungen jüngerer genderqueerer Menschen noch reichhaltiger zu machen.
Queerfilmfestival: Auffällig viele Sporttitel – ein Trend?
Gibt es denn noch auch klassische Coming-out-Filme? Jein. Viele der (Anti-)Heldinnen, aus den Queerfilmfestival-Geschichten haben noch an ganz anderen Problemen zu knabbern als am Coming-out. Das macht sie zu komplexeren Figuren: Das bitterschöne Drama „Le Paradis“ führt uns in eine Jugendstrafanstalt in Belgien. Momente von Zärtlichkeit schimmern auf, etwa wenn William Joe ein Tattoo sticht. Sehr sehenswert auch „Norwegian Dream“ über den jungen polnischen Gastarbeiter Robert, der in einer norwegischen Fischfabrik schuftet. Unpraktischer-, aber schönerweise verliebt er sich in den Adoptivsohn des Fabrikbesitzers. Zusammen muckt man mit der Gewerkschaft auf gegen die miesen Arbeitsbedingungen.
Die spielen auch eine Rolle im großartigen lesbischen Drama „Blue Jean“ (Kinostart: 5. Oktober), das in Venedig einen Publikumspreis erhielt. Es kreist um die Sportlehrerin Jean. Nebenbei bemerkt sind dieses Jahr auf dem Queerfilmfestival auffällig viele Sporttitel programmiert – vom Boxtalent Jim im neuseeländischen „Punch“ über die Eishockeyspielerinnen Mira und Theresa im österreichischen „Breaking The Ice“ zu den Basketballern Jake und Aleks im kanadischen „Golden Delicious“. Ein Trend?
In jedem Fall ist die Sportlehrerin Jean in „Blue Jean“ vordergründig ein glücklicher Mensch. Doch eigentlich muss sie (zur Zeit der Thatcher-Regierung) ihr Lesbischsein verletzend verstecken. Rosy McEwen spielt diese Ambivalenz genial. Spannender Bezug, den das Festival aufmacht: „Nighthawks“, ein in Deutschland nahezu unbekannter Klassiker des schwulen britischen Kinos von 1978, zeigt ebenfalls einen Lehrer, der sein Schwulsein versteckt. Nachts zieht er zu einem hypnotisch-psychedelischen Electro-Soundtrack durch die Schwulenclubs Londons, im Dating-Hamsterrad. Apropos Soundtrack: Der funky Soundtrack (samt Sylvester!) im New-Queer-Cinema-Klassiker „Young Soul Rebels“ (1991), der auf dem Festival digital restauriert zu sehen ist, steht der Liebenswürdigkeit seiner Soulboy-DJ-Protagonisten in nichts nach.




