Einen wie diesen hatte noch keine Partei. Erst recht nicht die CDU. Joe Chialo, in Bonn geborener Schwarzer, gelernter Zerspanungsmechaniker, Band-Sänger, Türsteher, Heavy-Metal-Fan, Musikmanager, um nur ein paar biografische Abschnitte zu nennen. Besser passt zum CDU-Standard: Joe hieß früher Joseph, ist gläubiger Christ und Familienmensch, wobei ihm seine Frau nicht „den Rücken frei“ hält, sondern eigene berufliche Ambitionen hat.
Jetzt wird Joe Chialo Berliner Kultursenator. Ein cooler, urbaner, fröhlicher Mann aus der Kreativszene, ein Kommunikationstalent. Da kommt ein völlig anderer Typ in diesen für Berlin konstitutiven Lebensbereich als der Linke Klaus Lederer, der in den vergangenen fetten Jahren reichlich Geld über den diversen „Szenen“ ausgießen durfte.
Was wird sich ändern unter einem schwarzen Kultursenator? Wer jahrelang auf links-grüner Seite für Diversität warb, müsste sich eigentlich freuen wie Bolle, statt vorauseilend eine schwarz-rote „Rückschrittskoalition“ zu beklagen. Joe Chialo ist Quereinsteiger, politisch ein unbeschriebenes Blatt. Als er 2021 in Spandau um ein Direktmandat für den Bundestag kämpfte, nannte er in Gesprächen mit der Berliner Zeitung seine Schwerpunkte: „Ich möchte die moderne Kreativ- und Kulturwirtschaft fördern“, also Clubkultur, Urheberrechte im digitalen Raum, Filmwirtschaft, Gaming.
Er forderte: „Die Clubs müssen als Kulturstätten anerkannt werden, Clubs sind Talenteschmieden, erfüllen einen wichtigen kulturellen Beitrag, sie machen Innenstädte attraktiver, ziehen Publikum an und machen den Standort attraktiver.“ Trotzdem würden sie baurechtlich als Vergnügungsstätten mit Bordellen und Wettbüros gleichgestellt. Auf Bundesebene stieß er in der eigenen Partei mit diesem Anliegen (noch) nicht auf Begeisterung.
Wenn er sagt, „Kultur ist Disruption. Disco ist Disruption – da spürt man Stärke, da sind Jugendliche unterwegs“, erkennt man, dass Chialo andere Schwerpunkte setzt als seine gediegene Parteikollegin Monika Grütters, die auch mal Berliner CDU-Vorsitzende war und Kulturstaatsministerin mit Vorliebe für das Klassische. Joe Chialo will für die Stadt Unruhe – das mit dem Clublärm werde man schon hinkriegen: „Es ist ja nicht so, dass es sieben Tage die Woche 24 Stunden am Tag durchgehend scheppert.“ Und: „Auch wo es hardcore abgeht, entsteht Kultur.“ Kultur sei keine elitäre Veranstaltung und auch keine nur für Berlin-Mitte, auch andere Bezirke hätten ein Zentrum – Charlottenburg-Wilmersdorf, Kreuzberg, Schöneberg: „Dort müssen überall auch Clubs sein.“

Die Berliner Clubkultur kann sich also auf einen engagierten Fürsprecher freuen – und die jungen Leute auf eine „emphatischere, frischere, jüngere Kommunikationslinie“, wie Chialo sagt. Der Plan: junge Leute „begeistern“.
Ändern wird sich sicherlich der Blick auf diverse Nischen: Die von Lederer mit Millionen Euro begossenen Decoloniale-Grüppchen, die laut klagend und mit wenig Effekt, weil exklusiv unterwegs waren – eher mit der Selbstbefriedigung ihrer Blase befasst, statt mit dem Anliegen, einem wirklich großen Publikum die deutsche Kolonialzeit und ihre Folgen klarzumachen. Auch die in Berlin nach Zehntausenden zählende „freie Szene“ wird womöglich einen kritischen Blick abbekommen: Sind da eher individuelle Lebensentwürfe finanziert worden oder hatte auch die zahlende Gesellschaft einen Gewinn? Chialo spricht nämlich, zunächst noch allgemein, davon, den Rahmen für künstlerische Entfaltung zu schaffen. Man müsse Türen öffnen – durchgehen müsse man schon selber. Was auch signalisiert: Strengt euch an!
Für die CDU in ihrer wenig inspirierenden Suche nach einem jüngeren, urbanen, diverseren Erscheinungsbild verheißt Joe Chialo den ganz großen Goldfund. Das haben die Spitzen recht rasch begriffen. Bei der Wahl in den Bundesvorstand bekam keiner mehr Stimmen als er. Und das liegt nicht nur an seiner entwaffnendsten Waffe: Wenn er in fast 1,90 Höhe sein strahlendes Lachen aufsetzt, gehen die Herzen auf.
Leben in zwei Welten
Dass da auch ein enorm reflektierter Mensch mit Lebenserfahrung antritt, einer, der schon viel einstecken musste, enorme Resilienz entwickelt hat und als Gewinnerstrategie die Freundlichkeit praktiziert, lehrt das von Chialo vorgelegte Buch „Der Kampf geht weiter. Mein Leben zwischen zwei Welten“. Der Titel verweist auf die Losung der antikolonialen Freiheitsbewegung Mosambiks „A luta continua“; die Frelimo operierte vom Süden Tansanias gegen die portugiesische Kolonialmacht. Chialos Vater, dessen Heimat im Süden Tansanias liegt, sympathisierte mit den Freiheitskämpfern.
Der Sohn hat seine eigene, ungewöhnliche Lebensgeschichte aufgeschrieben (selbst aufgeschrieben!) –geerdet, unaufgeblasen, authentisch. Und er hat viel mehr zu beschreiben als den kurzen Weg vom Abi zum Politologiestudium mit Auslandssegment in die Politik. Seine politischen Botschaften packt er – separiert vom Erzähltext – in schriftlich fixierte Reden. Sicherlich ist das Buch auch praktisch: Chialo beantwortet die Fragen, die ihm, der wie aus dem Nichts in die Politsphäre stieg, sicherlich immer wieder gestellt werden.
Der 52-Jährige berichtet vom Schmerz des Kindes bei der frühen Trennung von den Eltern, die als Diplomaten ständig woandershin versetzt wurden und zwei Söhne in einem Salesianer-Internat ließen. Auch von der Gewalt in der Erziehung erfährt man. Chialo erzählt vom Deutschlernen vor der Glotze, von seiner Sozialisierung in wechselnden Wochenend-Pflegefamilien im Deutschland der 1980er-Jahre zwischen Udo Jürgens und Hans-Joachim Kuhlenkampff, von seinem Mentor, dem Salesianerpater Karl Oerder. Aus der irritierenden Erfahrung des Herumgereichtwerdens heraus entwickeln er und sein Bruder eine Strategie des ostentativen Nettseins: auf immer neue Leute zugehen, damit die das Gefühl haben, fröhliche, dankbare Jungs im Haus zu haben.
Zu der spannenden Frage, wie Joseph zu Joe wurde, gibt es folgende Geschichte: In den 80ern pflegte man in Deutschland das Bild von Afrika als Hungerkontinent: „Wenn ich auf Afrikaner gemacht hätte, hätte ich das Dauerabo in der Loserrolle gebucht. Im Internat wäre das mein Untergang gewesen“, erinnert sich Chialo und tat, was viele Afrikaner damals taten: „Ich amerikanisierte mich und legte das Afrikanische weitgehend ab.“ Englisch sprach er ohnehin fließend, dazu „ein bisschen Breakdance, ein bisschen Rap und ein bisschen Basketball und schon war ich im Game. Aus Joseph wurde Joe.“ Mit 15 funktionierte das.

Rassismus und das Opfernarrativ
Im Fußball scheiterte der Traum von der Glanzkarriere, aber ein Charakterzug zeigte sich: „Ich wollte der Motor der Mannschaft sein.“ Dass er schnell rennen konnte, erklärten Sportlehrer „noch recht unwoke“, wie Chialo schreibt: „Klar, dass der so schnell läuft, wenn der zu Hause in Afrika immer die Zebras einfangen muss.“ Auf dieser Ebene bewegte sich der Alltagsrassismus: „Ein bisschen Spaß muss sein.“
Erfahrungen hat er diesbezüglich tonnenweise, und auch hierfür eine Strategie mit dem Kernpunkt: Chialo akzeptiert die Opferrolle nicht. Daraus könnte auch eine andere Sicht auf die Decolonizer-Grüppchen resultieren, die ihre Strategie auf dem Opfernarrativ aufbauen. Chialo vertritt ein Afrikabild voller Kraft und Stolz, spricht begeistert von den auf dem Nachbarkontinent liegenden Potenzialen. Das könnte ein Weg sein, die vom Thema Kolonialismus gelangweilte Gesellschaft für das Thema zu öffnen statt sie – wie bisher – eher abzustoßen. Mit dem Kultursenator Chialo könnte die inspirierende Seite Afrikas Berlin fluten.
Sein Intermezzo in der Grünen-Partei blieb kurz. 2016 trat er in die CDU ein mit dem Ziel: „Ich möchte etwas bewegen. Nicht warten, bis ich bewegt werde.“ Die Überzeugung: „Kultur ist der Kitt, den wir brauchen, um die permanenten Risse in unserer Gesellschaft wieder zu schließen.“ Die Methode: „Bücken bauen“ und „mit Worten überzeugen“. Ein zu vermeidender Fehler: „Dauerempörung bringt uns nicht weiter – wir können uns nicht gegenseitig wegcanceln.“ Was gar nicht infrage kommt: „Diese Schläfrigkeit und das Dauergejammer, dieses Mimimi-geht-nicht!“
Was die Zukunft bringt
Die vielen harten Brüche im Leben, der Blick über den deutschen Tellerrand brachten die Einsicht, dass eine neue Weltordnung heraufzieht: „Was wir heute noch für undenkbar halten, kann morgen schon Realität sein.“ Und: „Morgen kann es richtig wehtun – wenn wir uns nicht ändern.“ Oder: „Für das, was vor uns liegt, gibt es keine Blaupausen.“ Kurze Sätze, klare Ansagen. Manchmal ähnelt deren Struktur den Leitsprüchen, die er unter deutschen Dächern hörte wie „Von nichts kommt nichts“. Neuerdings klagen verlustangstgeplagte Wohlstandsgenerationen angesichts der Zeitenwenden, das Beste sei vorbei. Chialo hält dagegen: „Das Beste kommt noch.“ Verschwendung von Ressourcen muss ja nicht die Definition von Reichtum sein. Wenn das die Definition von „das Beste“ ist.






