Nach der Selbstenttarnung des Autors Fabian Wolff war Philipp Peyman Engel, Chef vom Dienst bei der Jüdischen Allgemeinen, mit seinem Kommentar „Der Kostümjude“ einer der Ersten, die sich zu Wort gemeldet hatten. Darin äußerte sich unter anderem dazu, warum es 2015 zwischen Wolff und der Jüdischen Allgemeinen zum Eklat gekommen war – und wie die Redaktion einige Jahre später von Wolffs Identitätsschwindel erfahren hatte.
Im Interview mit der Berliner Zeitung rollt Engel den Fall Wolff neu auf.
Herr Engel, der Autor Fabian Wolff konnte sich jahrelang als jüdischer Sympathisant der Israel-Boykottbewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) ausgeben. Er publizierte erfolgreich in mehreren deutschen Medien, darunter bis 2015 auch in der Jüdischen Allgemeinen. Jetzt hat er zugegeben, dass er gar kein Jude ist. Wie konnte er so weit kommen?
Lassen Sie mich zunächst klarstellen, dass Wolff nicht immer der gewesen war, der er heute ist. Als er vor dreizehn Jahren bei der Jüdischen Allgemeinen angefangen hat, Texte zu publizieren, war er – anders als heute – kein politisch radikaler Autor, er schrieb vor allem über Kulturthemen. Mit der Zeit wurde ihm aber die sogenannte Israelkritik zur Obsession, er fantasierte zielgruppengerecht von „ethnischer Säuberung“ in Israel und entwickelte einen regelrechten Hass auf den jüdischen Staat, während er der antisemitischen BDS-Bewegung ein Koscher-Zertifikat ausstellte. 2015 kam es zum Bruch mit unserer Redaktion.
Was war geschehen?
Er hat unserer Redaktion öffentlich Rassismus vorgeworfen, weil wir im Zuge der antisemitischen Protestwelle nach dem Gaza-Krieg auch über muslimischen Antisemitismus berichtet hatten – so, wie wir auch den Antisemitismus von rechts, links oder aus der bürgerlichen Mitte beleuchten. Damit hat er bei denen, die israelbezogenen Antisemitismus verharmlosen, genau ins Schwarze getroffen. Von da an hat er für mehrere Medien eine Marktlücke bedient.
Inwiefern?
In den Redaktionen einiger deutscher Tages- und Wochenzeitungen werden allzu oft gern Juden als Autoren angefragt, wenn es um Israel geht. So als ob nur Juden die Politik der israelischen Regierung kritisieren dürften. Dass Kritik nicht das Problem ist, sondern Hetze gegen den Judenstaat, auf diesen blinden Fleck kommt man in den Redaktionen leider nicht. So kam das eine zum anderen. Es hieß dann wohl: „Fragen wir doch einmal Fabian Wolff zum Thema Israel als Autor an, er ist doch Jude.“ Völlig egal, dass Wolff noch nie in Israel war und keine Ahnung hat von dem, was er sagt. Umso stärker strickte Wolff an der Legende rund um seine jüdische Identität, um als Kronzeuge gegen Israel auftreten zu können. Vor zwei Jahren gipfelte das dann in seinem Essay „Nur in Deutschland“, in dem er als „Jude in Deutschland“ auftrat – aber Positionen verbreitete, die in der jüdischen Gemeinschaft hierzulande absolut marginal sind.
Zum Beispiel?
Er dichtete darin den Deutschen eine übertriebene Liebe zu Israel an und verharmloste auf eine gefährliche Weise israelbezogenen und muslimischen Antisemitismus. Außerdem outete er sich als Unterzeichner der „Initiative Weltoffenheit GG 5.3“ – eines Netzwerks von Israelfeinden, die mit der Israel-Boykottbewegung BDS sympathisieren.

Vor einigen Wochen veröffentlichte Zeit Online Wolffs 70.000-Zeichen-Bekenntnisschreiben „Mein Leben als Sohn“, in dem er seiner Enttarnung durch andere Medien zuvorgekommen war. Sie antworteten darauf mit einem Kommentar, in dem Sie schrieben, dass die Jüdische Allgemeine schon 2021 Hinweise auf Wolffs Identitätsbetrug hatte. Und verwiesen auf ein Dossier, das Wolffs inzwischen verstorbene Ex-Freundin Helen R. der Redaktion hatte zukommen lassen. Damals entschied sich die Jüdische Allgemeine aber dagegen, es zu publizieren. Hätten Sie heute anders gehandelt?
Heute würde zumindest ich anders entscheiden. Nach allem, was wir hören, ist Wolff – trotz seiner fortwährenden Lügen – sehr stabil. Damals hatten wir alle den Fall von 2019 im Kopf, als der Spiegel die Bloggerin Marie Sophie Hingst als Kostümjüdin enttarnt hatte. Sie nahm sich daraufhin das Leben. Wir hatten große Sorge, dass sich so etwas wiederholen könnte. Das konnten wir ethisch nicht verantworten. Zugleich haben wir, nachdem wir das Dossier 2021 erhalten hatten, mit Redakteuren anderer Zeitungen darüber gesprochen.
Zu welchem Zweck?
Wir wollten die Journalistenkollegen vor Wolff schützen. Größere Redaktionen hätten zudem den Vorteil gehabt, dass sie Wolff hätten schützen, aber auch ihn mit den Vorwürfen hätten konfrontieren können. Das ist offenbar nicht geschehen: Wolff durfte bis zuletzt munter weiter publizieren, auch bei Zeit Online.
Nach einer Welle der öffentlichen Kritik rudert nun die Redaktion zurück und lässt die Leser in ihrem Faktencheck wissen, sie hätte die Essays „Nur in Deutschland“ und „Mein Leben als Sohn“ mit dem heutigen Wissen nicht publiziert. Reicht das als Entschuldigung?
Nein. Das müsste erst der Beginn einer innerredaktionellen Aufarbeitung sein. Denn was Zeit Online im Faktencheck offengelegt hat, liest sich auch wie eine Dokumentation ihres redaktionellen Versagens. Wie wir darin erfahren, hatte Helen R. auch den Kontakt zur Zeit gesucht. Sie hat sich zweimal privat an einen Redakteur der Zeit gewandt und war beide Male gescheitert: Erst 2017, dann 2022. Anstatt ihrem Hinweis nachzugehen oder ihn zumindest an die Kollegen der Zeit Online weiterzugeben, soll er Helen R. dazu aufgefordert haben, sich bei Zeit Online zu melden. So ist Helen R.s Hinweis versandet. Übrigens hatten mich die Kollegen von Zeit Online ebenfalls für ihren Faktencheck kontaktiert. Die ganze Recherche machte auf mich einen unorganisierten Eindruck.
Warum hatten die Redakteure von Zeit Online Sie kontaktiert?
Weil die Kollegen zur Causa Wolff noch nichts recherchiert hatten. Das war zwei Wochen vor Veröffentlichung des Faktenchecks. Sie baten mich, die Informationen an sie weiterzuleiten, die mir zu dem Fall vorliegen. Dabei weiß ich von zwei oder drei anderen Zeit-Redakteuren, die diese Informationen über Wolff ebenfalls vorliegen hatten. Sie hatten sich vielleicht mit ihren Kollegen nicht abgesprochen oder wussten gar nichts von deren Recherchen. Offenbar sind die Redaktionen so groß und so schlecht miteinander vernetzt, dass die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Das wäre zumindest eine wohlwollende Interpretation.
Und wenn es tatsächlich so gewesen war?
Dann spricht das Bände darüber, wie unorganisiert im Fall Wolff die Redaktion war. Zumal sich die Frage stellt: Den Täuscher einen 70.000-Zeichen-Essay schreiben zu lassen, ist so, als hätte sich der Spiegel damals entschlossen, als erster mit einem Essay von Claas Relotius an die Öffentlichkeit zu gehen. Das ist schon sehr fragwürdig. Wenn ich dann auch noch im Spiegel lese, dass der Text in der Zeit-Online-Redaktion begeistert ein „Dokument der Zeitgeschichte“ genannt wurde, dann fehlen mir die Worte.
Dabei verstrickte sich Wolff infolge der Zeit-Online-Recherchen immer weiter in Ausflüchte und Widersprüche, sobald er mit den Vorwürfen konfrontiert wurde. Auch das hat dieser akribische Faktencheck gezeigt.
Ja. Fabian Wolff hat mir gegenüber des Öfteren gesagt, er sei als Kind jüdisch aufgewachsen. Im Gespräch mit anderen Juden und Nichtjuden in Berlin hat er dies ebenfalls regelmäßig behauptet. Diese Aussagen von Wolff widersprechen seiner Behauptung im Zeit-Online-Essay, er habe erst mit 18 von seiner angeblichen Jüdischkeit erfahren. Dass Fabian Wolff, von den Zeit-Online-Faktencheckern auf diesen fundamentalen Widerspruch hingewiesen, antwortet, schon als Kind sei über das Jüdische gesprochen worden, beweist einmal mehr das Prinzip Fabian Wolff: 1) Lügen. 2) Auf Nachfragen und Beweis des Gegenteils ins Straucheln kommen. 3) Weitere Lügen als Schutz anführen. Auch musste er gegenüber dem Spiegel kleinlaut einräumen, dass er erneut gelogen hat. Er hielt sich anders als behauptet nach Veröffentlichung seines Zeit-Online-Textes nicht in den USA auf, sondern in Deutschland. Er ist ein Lügner, ein tragischer Fall.
Spielte bei Wolffs Identifikation mit der „Jüdischkeit“ möglicherweise auch eine gewisse Portion Antisemitismus eine Rolle?
Das ist keine einfache Frage. Ich möchte sie daher zunächst nur indirekt beantworten. Die Judaistin Barbara Steiner hat ausführlich zu „Fake Jews“ geforscht und sich viel damit beschäftigt. Sie sagte im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen, Fabian Wolff sei der Antisemit, der er nie sein wollte. Und zwar gerade, indem er sich als Jude „verkleidet“, Juden mit anderen Einstellungen zu Israel aggressiv abgekanzelt und gegen den jüdischen Staat agitiert hat. Insofern würde ich die Frage mit Ja beantworten und mir den Satz von Barbara Steiner leicht verändert zu eigen machen: Obwohl er das nicht wollte, ist er der israelbezogene Antisemit geworden, der er nie sein wollte.
Der Fall Wolff hat nun auch hohe politische Wellen geschlagen: So hatte sich Felix Klein geäußert, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung. Auch der ehemalige Grünen-Politiker Volker Beck gab zu diesem Fall ein Statement ab – Beck ist heute Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Schließlich hatte auch der israelische Botschafter Ron Prosor Stellung genommen. Ist das nicht eine Ebene zu hoch angesetzt? Schließlich geht es hier doch nur um eine Einzelperson.
Das sehe ich anders. Natürlich kann man sagen: Wer ist denn überhaupt dieser junge Berliner Lehrer Fabian Wolff, der in seiner Freizeit Märchen aus Tausendundeiner Nacht erzählt? Aber man darf nicht unterschätzen, welche Reichweite Wolff gehabt hat: Sein Zeit-Online-Essay „Nur in Deutschland“ wurde weit mehr als Hunderttausend Mal gelesen, er wurde auf Englisch übersetzt, sodass er auch eine internationale Rezeption erfuhr. Das nicht jüdische deutsche Bildungsbürgertum hat diesen Text gelesen und rezipiert, in denen Wolff der antisemitischen BDS-Bewegung seinen Koscher-Stempel verpasst hatte. Das ist brandgefährlich. Insofern ist es komplett richtig, dass sich jetzt auch die Genannten zu Wort melden.







