Helmut Kohl hatte recht. Steile These, klar, aber wenn eines Tages ein Historiker oder ein Außerirdischer mit Forschungsauftrag in die einstigen DDR-Gefilde kommt, um dort zu ergründen, was sich in den 1990er-Jahren ereignet hat, und wenn er zu diesem Behuf auf die in den kommunalen Archiven abgelegten Bildbestände zurückgreift, wird er erkennen: Ja, der Kanzler der Einheit hat nicht zu viel versprochen – überall blühende Landschaften, herzerwärmende Mohnfelder, prangende Heere von Sonnenblumen, fruchtversprechende Kirschblüten, insektenfreundliche Wiesen, so weit das Auge reicht.
Und auch im übertragenen Sinne fügt sich dem künftigen Betrachter von außen ein Bild zusammen, auf dem eine arbeitssame und bestens gelaunte Gesellschaft zum Licht strebt, Handel treibt, baut und werkelt, feiert und tanzt. Allseits lächelnde Menschen, die sich in Trachten werfen, Grundsteine legen, erste Spatenstiche setzen, attraktive Wanderwege und potente Autobahnabschnitte einweihen. Ein ganzer Strauß von Discountern, Videotheken, Großraumdiscos, Tankstellen, Fastfood-Filialen, Media- und Supermärkten wird eröffnet. Das schöne Wort „Gewerbepark“ versucht, seine Ironie abzustreifen.
Die große Umverteilung
Der imaginierte Forscher wird dieses farbenprächtige Mosaik anstaunen, denn möglicherweise hat er auch ein paar Wirtschaftszahlen im Dossier, die eine andere Geschichte aus dieser Zeit erzählen. Eine Geschichte von Abwicklung, Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Das untergegangene realsozialistische Industrieland DDR ist abgeschaltet worden, die Erzhütten im Mansfelder Land, die Textilindustrie, das Chemiedreieck, die Braunkohletagebaue, der Schwermaschinenbau, die Kraft-, Stahl- und Walzwerke. 8000 volkseigene Kombinate und Betriebe hat die Treuhand übernommen. Sie verkaufte ungefähr 50.000 Immobilien, fast 10.000 Firmen und mehr als 25.000 Kleinbetriebe – zu 85 Prozent an Westdeutsche und zu zehn Prozent an internationale Investoren. Nicht einmal fünf Prozent kamen in die Hand von Ostdeutschen. Woher hätten sie auch das Vermögen nehmen sollen?
Bildstrecke
Nur jeder vierte von ihnen behielt seinen Job, die Arbeitslosigkeit stieg auf über 20 Prozent, wobei diese Zahl stark bereinigt ist. Denn ungefähr 3,75 Millionen Ex-DDR-Bürger, deren Identität im Arbeiter- und Bauernstaat durch das Kollektiv geprägt wurde, ließen sich in die Frührente schicken. Andere traten befristete Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) an, viele zogen weg. Es wird sich keine Familie, also keine Biografie finden lassen, die aus dieser beispiellosen Umverteilung keine Verlusterfahrung ziehen durfte. Auf den Bildern in den von öffentlicher Hand geführten Archiven findet man von diesen Ereignissen: nichts. Oder so gut wie nichts.
Dies ist der Befund der beiden Fotografen Falk Haberkorn und Sven Johne. Seit mehr als zwei Jahren wühlen sich die beiden durch kommunale und städtische Archive in einstigen Industriehochburgen der DDR. Die ihnen zugänglichen Archive der südlichen Hälfte Sachsen-Anhalts haben sie jetzt mehr oder weniger durchgesichtet. Wie kann es sein, dass ein derartiger Strukturwandel im öffentlichen Gedächtnis, das zu bewahren die Aufgabe dieser Archive ist, kaum Spuren hinterlässt? Wie kann man diese Überlieferungslücke erklären und deuten?
Archive zu führen gehört zu den kommunalen Pflichten. Jede Behörde muss ein Aktenstück, bevor sie es „kassiert“, also wegschmeißt, darauf prüfen, ob es im Archiv abgelegt werden soll. Aber auch das Archivwesen war von der Transformation betroffen und dem Spardruck unterworfen. „Zu DDR-Zeiten“, erzählt Johne, „war das ein sehr stringenter Vorgang. Da gab es ein Handbuch, das Positionen verzeichnete, die aufzunehmen waren. Da wurden nach ’89 sehr viele Arbeitsplätze eingespart und Dienststellen zusammengelegt. Dazu kommt die Abwanderung von Fachkräften. Das merkt man an den sehr verschiedenen Zuständen in den Archiven. Aber so oder so: Es muss immer jemanden geben, der da im Auftrag der Öffentlichkeit entscheidet, was hinein- oder was nicht hineinkommt.“
Das gilt auch für die Bildbestände. Nach dem Ende der DDR wurden Fotos nicht mehr proaktiv gesammelt und zusammengetragen, so Haberkorn. „Seit den frühen Neunzigern sichteten die Mitarbeiter nur noch angebotenes Material.“ Den Hauptteil bilden nach der vorläufigen Bestandsaufnahme von Johne und Haberkorn Bilder, die den Wunsch nach Hoffnung transportieren. Es sollte vorwärts gehen, Gewerbeansiedlungen und Infrastrukturmaßnahmen waren Anlass, um auf einen Auslöser zu drücken. Auf Fotos von Festen, oft mit historisierenden Themen, stellt sich Heimatverbundenheit dar. Auch die Liebe zur örtlichen Natur, die durch die Schließung von vielen Dreckschleudern durchaus als Wendegewinner anzusehen ist, zeigt sich in detailverliebten Aufnahmen von Renaturierungsmaßnahmen. Dieser Wille zum Positiven rührt in seiner Vergeblichkeit auch an. Es tauchten liebevoll gestaltete Mappen etwa von der Einweihung einer Verbundpflasterstraße auf, hübsch gebunden und verziert mit Schönschrift, vermutlich das Werk einer ABM-Kraft, die Sinn in ihrer Beschäftigung suchte.
Ein Mosaik aus 60.000 Bildern
Bildmaterial aus Zusammenhängen des Denkmalschutzes, einige wenige Pressekonvolute und erstaunlich viele, bei Stadtvätern offenbar sehr beliebte Luftaufnahmen (mit denen laut Haberkorn irgendein Berliner viel Geld verdient haben muss) lassen etwas mehr Realität durch. Hier und da finden sich willkürliche Privatbestände in Foto-Fix-Tüten oder qualitätvolle heimatkundliche Dokumentationen aus der Hand von Hobbyfotografen. Die Zuordnung von Bildunterschriften ist ein Problem. Viele Bilder liegen in analogen Abzügen in Kisten oder gar in den Tüten der Fotoentwickler, manche Archive haben die Bilder bereits eingescannt und in den schwer zugänglichen Tiefen von Festplatten gelagert. Was Haberkorn und Johne in die Hände bekamen, reproduzierten sie mit einer kleinen mobilen Anlage und einem Smartphone. Mehr als 60.000 Bilder sind inzwischen durch ihre Hände gegangen, ungefähr ein Zehntel davon haben sie reproduziert. Blumen, Märkte, Feste.
Aber wo sind die abgewickelten Liegenschaften, die teilweise noch heute als Ruinen in der Landschaft herumstehen? Wo die Schlangen an den Schaltern des Arbeitsamtes, das teilweise in Container ziehen musste, weil die räumlichen Kapazitäten in den Bürgerämtern und Rathäusern für die Massenentlassungen nicht ausreichten? Wer hat all die resignierten Menschen aus dem Stadtbild getilgt?
Johne und Haberkorn sind gründlich und geduldig. Sie haben um die Jahrtausendwende in Leipzig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Fotografie studiert und 2004 eine erste gemeinsame Reise unternommen, einen 8000-Kilometer-Roadtrip durch das Beitrittsgebiet. Viereinhalb Wochen, vom 3. Oktober bis zum 9. November, wollten sie es Herbst werden lassen auf ihren Bildern. Johne fotografierte die endlosen Äcker und stellte fiktionalisierte Meldungen aus Lokalzeitungen als Textblöcke wie Plattenbauten in die Landschaft: Geschichten von Menschen, die sich mit Brandbeschleuniger gegen die Räumung ihrer Wohnung wehrten, von Reichsbürgern, die damals noch anders hießen, von Suff, Gewalt und Depression. Haberkorn blieb für seine Fotos im Auto und nahm die geschützte Perspektive eines Safari-Reisenden ein, seine Serie erschien 2018 unter dem Titel „After the Goldrush. Journey to Eastern Germany“ im Spector Verlag.

Es war eine Fahrt ins Blaue, wie sie heute erzählen. Das Thema Ostdeutschland und DDR-Identität war damals in der Kunst noch kaum erkannt, auch die beiden selbst sind erst einmal einem unbestimmten biografischen Impuls gefolgt. Beide sind in der DDR geboren, Johne in Bergen auf Rügen, Haberkorn in Berlin-Köpenick. Sie waren auf der Suche nach den Landschaften ihrer Kindheit, nach den verblassenden Bildern von langen Trabi-Fahrten über schlaglochreiche Autobahnen durch eher konturlose Kleinformatfernen in Braunkohlesepia.
Was sie 2004 vorfanden, ernüchterte sie. Haberkorn spricht von Mehltau, von Trostlosigkeit und davon, dass damals schon etwas gärte, was dann ein paar Jahre später mit den Montags- und Pegida-Demos, dem Merkel-Hass aufbrach und der AfD zu immer höheren Wahlergebnissen verhilft. Für die beiden Fotografen artikulieren sich in diesen Erscheinungen die geschluckten brutalen und zumindest von heute aus gesehen beleidigend primitiven Demütigungen, die der Euphorie der friedlichen Revolution von 1989 unmittelbar folgten und kaum auf Gegenwehr stießen. Hinterher ist man immer schlauer, klar, aber dass der zeitgenössische Blick dermaßen bereinigt wurde – das erzählt viel über das von Diskriminierung und Abwertung gebeutelte Selbstbewusstsein einer Community.
Bei den ersten Archivadressen glaubten die beiden noch, es wäre Zufall. Aber inzwischen zeichnet sich als eine Art Negativ immer deutlicher ein großer blinder Fleck ab. Eine Gesellschaft, die eben noch Grund zu Optimismus und Hoffnung zu haben glaubte, findet sich im Griff eines größtenteils fremdgesteuerten Umbruchs wieder und siebt fleißig die Kränkungen, Widrigkeiten, Angriffe, negativen Folgen aus, frisst die individuellen Verlust- und Demütigungserfahrungen in sich hinein und legt den bitterreichen Erfahrungsschatz als blühende Landschaften im institutionalisierten Gedächtnis ab.






















