Gesundheit

Fatigue: Darum demonstrieren Betroffene wieder vor dem Reichstag

Mit einer Liegend-Demo wollen ME/CFS-Patienten sichtbar werden. Sie fordern Versorgung, Aufklärung, Anerkennung. Eine Betroffene berichtet.

Ein verschwommenes Gesicht: Brain Fog ist ein Symptom von ME/CFS.
Ein verschwommenes Gesicht: Brain Fog ist ein Symptom von ME/CFS.Photocase/imago

Sie bringen Decken mit. Schließlich liegen sie am Freitagnachmittag eine Weile auf der Wiese vor dem Reichstag, dem Sitz des Bundestages.

Der 12. Mai ist weltweit ME/CFS gewidmet. Jener Erkrankung, die oft nur Fatigue genannt wird und an der in Deutschland rund 500.000 Menschen leiden.

Meist verborgen in den eigenen vier Wänden, abgeschirmt von Sinnesreizen, die sie nicht aushalten. Symbolisch tragen deshalb die Demonstranten vor dem Reichstag Kopfhörer und Sonnenbrillen. Sie nennen ihren Protest „Liegend-Demo“. Sie wollen für die Öffentlichkeit sichtbar werden.

Wie viele es am Ende sein werden, kann Gritt Buggenhagen schwer abschätzen. Sie hat sich die Liegend-Demo ausgedacht und mit anderen organisiert. „Wir fordern die Versorgung von ME/CFS-Patienten und mehr Forschung“, sagt die 54 Jahre alte Berlinerin. „Wir fordern, dass diese Erkrankung endlich anerkannt wird. In Deutschland haben die entscheidenden Stellen ME/CFS nach wie vor nicht auf dem Schirm.“

Gritt Buggenhagen selbst hat das am eigenen Leib erfahren müssen. Seit 2001 leidet sie an ME/CFS. „Damals hatte ich eine schwere Grippe.“ Fatigue beginnt häufig nach einer Infektion. „Ich hatte zunächst nur leichte Beschwerden.“ Die Heilerziehungs-Pflegerin konnte weiter ihrem Beruf nachgehen. Bis 2013, dann verschlechterte sich ihr Zustand. „Von da an war ich arbeitsunfähig.“ Die Symptome bezeichnet Buggenhagen rückblickend aber als moderat, denn 2018 schlug die Krankheit noch viel härter zu. „Ich konnte von einer Minute auf die andere nicht mehr das Bett verlassen.“

Es begann ein Martyrium. „Ich war nicht einmal in der Lage, auf die Toilette zu gehen“, erinnert sich Buggenhagen. Nach acht Stunden versuchte sie, auf allen Vieren ans Ziel zu gelangen, schaffte mit größter Anstrengung die wenigen Meter bis zum WC und zurück ins Bett. „Die Situation während der ersten Tage war katastrophal: Ich hatte keine Hilfe, keine Pflege, konnte mir nichts zu essen machen.“ Der Zustand besserte sich langsam ein wenig. Nach neun Monaten konnte sie sich wieder mehr bewegen, auch dank eines fahrbaren Untersatzes – vier Räder, Batterieantrieb, ein medizinisches Elektromobil. „Freunde haben es für mich gebraucht gekauft.“ Die Krankenkasse kam für die Kosten nicht auf. 

Liegend-Demo: Offensichtlich einen Nerv getroffen

Vor zehn Monaten dann der nächste heftige Schub. „Das war der Moment, in dem mir die Idee zur Liegend-Demo kam“, sagt Buggenhagen. Und da sie alleine vor dem Reichstag niemandem auffallen würde, griff sie zum Handy, gedimmtes Display, stellte auf Twitter die Frage, ob sich jemand an der Aktion beteiligen würde. „Mit einem Schlag meldeten sich an die 400 Leute, die wissen wollten, wann ich das mache.“ Ihr wurde klar: „Ich kann nicht mehr zurück.“

Offensichtlich traf ihre Idee einen Nerv. Für diesen Freitag haben sich Betroffene aus ganz Deutschland angesagt. „Sie nehmen zum Teil eine weite Anreise auf sich“, sagt Buggenhagen. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS beteiligt sich an der Aktion. Der Bundesverband Fatigatio und die Initiative Millions Missing sind dabei. Buggenhagen und ihre drei Mitstreiterinnen haben im Januar selbst einen Verein gegründet, die ME-Hilfe. „Mit einer Liegend-Demo allein ist es ja nicht getan.“

Im Aufbau befindet sich derzeit eine Plattform für Nachbarschaftshilfe. Geplant ist zudem eine Kampagne, die vor allem Ärztinnen und Ärzte anspricht. „Auf unserer Homepage ME-Hilfe.de sollen sie sich registrieren können, wenn sie für Betroffene zur Verfügung stehen möchten.“ Sie wollen auch aufklären. Darüber, dass ME/CFS kein psychosomatisches Phänomen ist, dem mit Entspannungstechniken oder einem ausgedehnten Urlaub beizukommen wäre. ME/CFS führen die Leitlinien für Hausärzte zwar unter Müdigkeit, jedoch kann die Erkrankung zu extremen körperlichen Beeinträchtigungen und sogar Schäden führen.

Da ist zum Beispiel POTS, das Posturale Tachykardie-Syndrom. Oft geht es mit ME/CFS einher, ebenso wie Small-Fibre-Neuropathie oder andere Komorbiditäten. Nerven und Blutgefäße können in Mitleidenschaft gezogen werden. Herzrasen, Luftnot, Zittern, Schwindel, Sehstörungen, Tinnitus, Muskelschwäche – die Liste möglicher Symptome ist lang. Allen schwer Erkrankten ist gemeinsam, dass sie kaum oder gar nicht belastbar sind.

Auch Gritt Buggenhagen leidet an einer solchen Belastungsintoleranz. „Ich kann mich nur eine halbe Stunde lang außerhalb des Betts aufhalten“, sagt sie. Mittlerweile wurde ihr ein Pflegegrad zugebilligt: Pflegegrad eins, die niedrigste Stufe. „Seit einem halben Jahr bekomme ich eine Rente.“ Der dritte Antrag ging durch. An Therapien hat Gritt Buggenhagen „alles versucht, was meine Krankenkasse bezahlt“. Immunadsorption zählt nicht dazu; ein Verfahren, bei dem die Autoantikörper aus Buggenhagens Blut gewaschen würden. Es gilt als vielversprechend. Doch die rund 15.000 Euro pro Anwendung kann sie nicht aufbringen.

Die vergessene Krankheit – so steht es in einem Flyer über ME/CFS, den Buggenhagens Verein herausgibt, um aufzuklären. 1969 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese als Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom offiziell anerkannt. Zum 28. Mal wird ihr in Deutschland nun schon der 12. Mai als Gedenktag gewidmet. Viel bewegt hat sich bisher nicht, findet Gritt Buggenhagen. „Okay, dann legen wir uns eben vor den Bundestag.“ Kurz bevor sie das tun werden, werden drüben im Reichstagsgebäude die Abgeordneten ihre Sitzungswoche beendet haben. Vorletzter Programmpunkt: 75 Jahre WHO.