Ich muss zugeben: Einen solchen Erfolg hatte ich nicht erwartet. Als wir vorletzten Freitag den Text über die Ärzte-Odyssee der 40-jährigen Ella veröffentlicht haben, die nach 20 Jahren Hashimoto plötzlich völlig neue und teils lebensbedrohliche Symptome bekam, war das eher aus der Not geboren.
Ursprünglich geplant war ein Interview mit einer Expertin zum Thema Hashimoto, doch aus Zeitnot bot es sich an, die eigentlich als Vorspann geplante Geschichte von Ella vorzuziehen – und auszuweiten.
Dass ausgerechnet dieser ungeplante Text auf solchen Zuspruch stoßen sollte, hat mich selbst überrascht: Er wurde um ein Vielfaches öfter und auch noch länger gelesen als sogar solche Texte, von denen erwartbar war, dass sie viel geteilt werden würden, unter anderem weil man sie sonst selten in großen Medien liest, etwa zu schweren Impfschäden. Und wir sprechen hier nicht über Klicks und Leseminuten innerhalb des Gesundheitsressorts, sondern des gesamten Online-Auftritts der Berliner Zeitung.
Dass „Ella“ so viel Zuspruch erhielt, dass der Artikel über sie und die Krankheit der bei uns jetzt schon meistgelesene Artikel des Jahres ist, ist aus vielerlei Hinsicht eine Betrachtung wert.
Erstens ist es eine personalisierte und dramatische Geschichte – und die werden nun mal gerne gelesen. Doch das reicht bei Weitem nicht aus. Wir haben regelmäßig personalisierte und auch dramatische Geschichten im Blatt, die weitaus weniger Leser interessieren, obwohl sie genauso wichtig und richtig sind wie die von Ella.
Zweitens handelt es sich bei Hashimoto um eine Volkskrankheit, unter der zwar sehr viele Menschen leiden – etwa zehn Prozent der Bevölkerung, also über acht Millionen Deutsche –, über die aber selten gesprochen und wenig berichtet wird.
Womöglich deshalb, und das ist der dritte Grund, weil Hashimoto für eine harmlose Erkrankung gehalten wird. Auch von – offenbar – zu vielen Ärzten. Wohl deshalb ist die Geschichte von Ella mit ihren Bluthochdruckkrisen und auch starken neurologischen Problemen für so viele Leser interessant, weil viele betroffen sind und es neu für sie ist, welche einerseits diffusen und andererseits handfesten körperlichen Störungen von einer kranken Schilddrüse und deren Behandlung mit dem Schilddrüsenhormon L-Thyroxin versursacht werden können. Denn nicht wenige Ärzte relativieren diese Zusammenhänge und schicken Hashimoto- und Schilddrüsenpatienten unverrichteter Dinge mit ihren anhaltenden Problemen wieder nach Hause, mit dem immer selben Satz: Das kann nicht von der Schilddrüse kommen.
Kann es offenbar doch, aber dies sind Erkenntnisse, die sich nur langsam ihren Weg durch Wissenschaft und Ärzteschaft bahnen und noch lange nicht in allen Praxen angekommen sind. Auch deshalb gibt es Tausende von Betroffenen, die sich in Patientenforen mit ähnlichen und vielen weiteren Problemen tummeln, um sich gegenseitig zu helfen.
Ein vierter Grund ist etwas heikler: Ellas Symptome ähneln denen von Patienten mit Impfschäden. Viele Betroffene von durch die Corona-Impfung verursachten körperlichen Beschwerden berichten ebenfalls von Bluthochdruckkrisen, Herzproblemen, einseitigen neurologischen Störungen mannigfaltiger Art.
Der generelle Unterschied zu Ella ist die schwere Fatigue, also eine bleierne und körperliche Müdigkeit, die diese Patienten meist noch zusätzlich plagt, und die durch Anstrengung noch stark getriggert wird, ähnlich wie bei Long Covid. Und weil so viele fragten: Ella ist aufgrund ihrer Probleme nie gegen Corona geimpft worden. Außerdem hat sie keine schwere Fatigue; wohl aber haben dies Patienten mit ME/CFS, dem chronischen Fatigue-Syndrom, das seit den 60er-Jahren erkannt, aber bis heute nicht behandelbar ist.
Der TV-Arzt und Comedian Eckart Hirschhausen hatte zuletzt all diese Krankheiten mit ihren ähnlichen Symptomen – bis auf Hashimoto – in einem ARD-Beitrag über Long Covid zusammengefasst. Weil sie eben so ähnliche Symptome haben und die Patienten sichtbar und völlig verzweifelt auf eine Therapie hoffen, die es bisher nicht gibt. Leider geriet dabei in der Öffentlichkeit in den Hintergrund, wie dringend Forschung und vor allem eine Finanzierung der Forschung zu diesem Themenkomplex benötigt wird.
Unter anderem, weil der Sendung von anderen Medien vorgeworfen wurde, sie stelle eine Therapie in Aussicht, deren Nutzen für diese Krankheitsbilder nicht belegt sei, die Apherese, also Blutwäsche. Doch wie kann deren Nutzen belegt oder nicht belegt sein, wenn dazu kaum geforscht wird?
Und damit kommen wir wieder zu Hashimoto: Von Hashimoto sind womöglich Hunderttausende oder gar Millionen Menschen betroffen – genaue Zahlen gibt es nicht, weil sie eben nicht gezählt werden –, die mit der bisherigen Behandlung allein durch L-Thyroxin nicht nur nicht zufrieden, sondern weiterhin krank sind, manche schwer. Und ein paar davon sind, siehe Ella, sogar so schwer krank, dass ihr Schicksal mit denen von Impfgeschädigten oder Long-Covid-Patienten vergleichbar ist.
Warum wird all diesen Patienten von den Ärzten nicht geholfen? Weil die Medizin noch nicht so weit ist. Man muss das so deutlich sagen: Bei Long Covid und Impfschäden ist es nicht verwunderlich, dass es noch keine Patentrezepte gibt, weil die Forschung dazu gerade erst beginnt. Doch ME/CFS und Hashimoto wurden schon vor Jahrzehnten entdeckt und offenbar für nicht allzu wichtig gehalten. Womöglich weil davon vor allem Frauen betroffen sind, eine von der Medizin traditionell eher vernachlässigte Patientengruppe?
Womöglich aber auch einfach deshalb, weil man das Immunsystem des Menschen bis heute nicht richtig verstanden hat, vor allem die Autoimmunprozesse. Auch deshalb konnte Corona die Welt dermaßen aus den Angeln heben, weil das Virus das Immunsystem auf eine Weise anzugreifen scheint, die wir bisher nicht kannten.
Wissenschaft und Ärzte täten gut daran, viel öfter zuzugeben, dass wir als Menschen noch lange nicht die Krone der Schöpfung erreicht haben. Wie sollten wir auch, dann könnten wir die Arbeit an der Wissenschaft einstellen und müssten nicht mehr weiter forschen. Corona hat nicht nur das Brennglas auf gesellschaftliche Verhältnisse gerichtet, sondern auch auf Wissenschaft und Medizin.
Dieser Umstand sollte dringend genutzt werden – und zwar nicht, um immer wieder zu behaupten, man habe alles im Griff und wisse Bescheid, dieses oder jenes könne nicht sein. Sondern vor allem dazu, die Forschung weiter voranzutreiben auf genau jenem Gebiet, das noch allzu unzureichend erforscht zu sein scheint: das menschliche Immunsystem und seine autoimmunen Störungen.
So wurde auch kürzlich erst herausgefunden, dass die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose offenbar doch durch das Epstein-Barr-Virus ausgelöst werden kann – ein Zusammenhang, der lange vermutet wurde, aber Jahrzehnte nicht bewiesen werden konnte. Es braucht dringend mehr Forschung zu diesen Zusammenhängen.







