Interview zu Schilddrüsenerkrankung

Hashimoto: Warum fühlen sich so viele Erkrankte von Ärzten unbehandelt?

In Schilddrüsen-Foren tummeln sich Tausende. Warum haben sie anhaltende Symptome und was hilft außer Thyroxin? Eine Expertin gibt Rat. 

Hashimoto ist eine Volkskrankheit, unter der in Deutschland rund zehn Prozent der Bevölkerung leidet. Die Schilddrüse ist chronisch entzündet. 
Hashimoto ist eine Volkskrankheit, unter der in Deutschland rund zehn Prozent der Bevölkerung leidet. Die Schilddrüse ist chronisch entzündet. imago/psodaz

Die Fallschilderung der 40-jährigen Ella mit Hashimoto vergangenen Freitag hat ungewöhnlich viele Leser interessiert. In Foren zu Schilddrüsenerkrankungen tummeln sich außerdem schon seit vielen Jahren Tausende von Betroffenen auf der Suche nach Hilfe. Woran liegt das und was können Hashimoto-Erkrankte selbst tun, um ihr Befinden zu verbessern? Dazu gibt die Autorin und Dozentin Irene Gronegger Auskunft, die unter anderem einen Ratgeber zu Hashimoto geschrieben hat und auch selbst davon betroffen ist.

Frau Gronegger, unser Text zu Ella vom vergangenen Freitag, die eine schlimme Odyssee aufgrund ihrer Hashimoto-Erkrankung hinter sich hat, hat bei uns alle Leserrekorde gebrochen in diesem Jahr. Woran liegt es, dass sich so viele Schilddrüsenpatienten Informationen abseits von Ärzten suchen, Sie haben auch einen Ratgeber dazu geschrieben: Werden Schilddrüsen- oder Hashimoto-Patienten von Ärzten nicht ausreichend ernstgenommen?

Das liegt an unterschiedlichen Gründen, unter anderem an Budgetierung der Laborkosten und Leitlinien zur Behandlung in den Hausarztpraxen. Außerdem kann es sehr hilfreich sein, wenn man sich als Patient bei Schilddrüsenerkrankungen selbst mit seinen Blutwerten auseinandersetzt und nicht alles dem Arzt überlässt.

Was bedeuten die Blutwerte?
Mithilfe der Schilddrüsenwerte (TSH, T3 und T4) kann man prüfen, ob die Schilddrüsenfunktion gestört ist. T3 und T4 werden in der Schilddrüse gebildet. Ihre Bildung ist abhängig von der Jodversorgung. Das TSH wird von der Hirnanhangdrüse ins Blut abgegeben, um die Produktion der Schilddrüsenhormone zu regulieren.

Das müssen Sie erklären: Inwiefern sorgen Budgetierung und Leitlinien für Unzufriedenheit in der Behandlung?

Es gibt eine Leitlinie für die Hausärzte zum TSH-Wert, die überarbeitet wird. Das Problem: TSH ist ja nur ein Steuerhormon, das bei Menschen mit Unterfunktion unterschiedlich anschlägt. Die eigentlichen Schilddrüsen-Hormone, T3 und T4, muss man als Arzt noch mal extra messen, wenn man das für nötig hält. Ich halte es für viel zu pauschal, davon auszugehen, dass Beschwerden erst dann auftreten, wenn die eigentlichen Hormone erniedrigt sind. Denn das ist erstens bei jedem Menschen anders, zum anderen messen die Labore unterschiedlich. Außerdem ist auch die Empfindlichkeit bei den Patienten unterschiedlich. Die Beschwerden einer Schilddrüsenunterfunktion schleichen sich ja ein. Das ist wie beim Eisenmangel. Die Beschwerden kommen nicht von einem Tag auf den anderen, sobald man die Normwerte unterschritten hat. Diese Leitlinie der Hausärzte, vor allem nach dem TSH vorzugehen, ist viel zu schematisch.

Was steht denn genau in dieser Leitlinie?

Da steht zum Beispiel in einem Satz: Die latente Hypothyreose verläuft asymptomatisch. Das bedeutet: Wenn nur der TSH-Wert im Blut erhöht ist, spürt man das als Patient angeblich nicht. Als Beleg verlinkt ist eine Studie, in der es aber gar nicht um Hashimoto geht, sondern um ältere Menschen mit erhöhtem TSH-Wert, die im Durchschnitt 75 Jahre alt sind. Was dann aber eine 30-jährige Patientin mit Hashimoto vielleicht für Probleme hat, kann man daraus gar nicht ableiten. Also da ist entweder einiges nicht gut begründet oder nicht gut gemacht in dieser Leitlinie.

Abbildung einer entzündeten Schilddrüse: Bei Hashimoto kann das schmetterlingsförmige Organ immer weiter schrumpfen.
Abbildung einer entzündeten Schilddrüse: Bei Hashimoto kann das schmetterlingsförmige Organ immer weiter schrumpfen.imago stock&people

Und was läuft bei der Budgetierung falsch?

Bei den gesetzlich Versicherten wird oft an Laborwerten gespart und wenn ein Hausarzt etwa nicht besonders interessiert daran ist, zum Beispiel eine Hashimoto-Erkrankung aufzuspüren, dann bleibt eben mancher Patient auf der Strecke. Das kann aber auch bei anderen Erkrankungen passieren. Daher muss man oft selbst auf die Idee kommen, zum passenden Facharzt zu gehen. Da wird dann im Falle der Schilddrüse ein Ultraschall gemacht und es werden mehr Werte erhoben und auch Schilddrüsen-Antikörper getestet. Zumindest wenn man der Erkrankung schon mal auf der Spur ist.

Wie kamen Sie dazu, einen Ratgeber über Hashimoto zu schreiben?

Ich kam auf das Thema durch meine eigene Diagnose Morbus Basedow. Ich hatte damals eine Schilddrüsen-Überfunktion. Als die behoben war, war aber trotzdem nicht alles in Ordnung, und ich musste selbst herausfinden, ob ich nun noch Hormone benötige oder nicht. Inzwischen habe nämlich auch ich Hashimoto, eine chronische Entzündung der Schilddrüse, die zur Unterfunktion führen kann.

Das Thema Hashimoto betrifft ja vor allem Frauen. Zehn Prozent der Deutschen haben Hashimoto, aber nur 20 Prozent davon sind Männer. Warum werden Frauen, wenn man das weiß, trotzdem so oft lange Jahre nicht mit Hashimoto diagnostiziert? In zahlreichen Betroffenen-Foren tummeln sich Tausende Patientinnen und berichten unter anderem davon, von Ärzten abgewimmelt zu werden. 

Es kann auch daran liegen, dass viele Männer sich vielleicht nicht so gerne über Probleme beschweren. Aber es gibt ja auch schon lange die Erkenntnis in der Medizin, dass Frauenkrankheiten traditionell eher weniger ernstgenommen und darüber auch Krankheiten bei Frauen übersehen werden.

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Privat
Zur Person
Irene Gronegger ist Autorin, Journalistin und Dozentin. Die Diplom-Geografin aus München hat sich nach der Diagnose einer eigenen Schilddrüsenerkrankung 2007 unter anderem auf Hashimoto spezialisiert und einen Ratgeber herausgebracht, den sie seit 2012 immer wieder mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen online aktualisiert. Seit 2015 hält sie auch Vorträge zu den Themen Schilddrüse und Hashimoto in Betrieben, Behörden und Kliniken. 

Aber das ist ja nun keine Kleinigkeit und Hashimoto kann auch gefährliche Symptome verursachen – offenbar wissen viele Ärzte das einfach nicht. Ich kenne den Fall, dass eine Hashimoto-Patientin starke Herzrhythmusstörungen hatte, aufgezeichnet beim Kardiologen. Er wusste nicht, wovon die kamen. Gegen den ärztlichen Rat, denn ihre Laborwerte waren gut, hat diese Patientin aufgrund des Leidensdrucks ihr Schilddrüsenmedikament dann leicht erhöht – und die Herzrhythmusstörungen waren weg und kamen auch nicht wieder. Die Aussage des Arztes lautete: Das könne nicht miteinander zu tun haben, denn, Zitat: „Vom Küssen kann man auch nicht schwanger werden.“ Woran liegt diese Unkenntnis von Ärzten, dass die Schilddrüse bei manchen Patienten offenbar doch starken Einfluss auf das Herz haben kann?

Die Feinheiten in der Dosierung von Schilddrüsenmedikamenten werden einfach oft unterschätzt. Die Dosierungsschritte scheinen oft zu grob zu sein, wie ein Hersteller die Dosierung fertig anbietet. Dass man die Tabletten auch teilen kann für einen Zwischenschritt, das bleibt bei manchen Ärzten auf der Strecke. Um meine Dosierung habe ich mich letzten Endes selbst gekümmert. Ich finde zwar auch, dass man nicht allgemein verlangen kann, dass sich alle Patienten so gut selbst einarbeiten. Aber im Grunde wäre es schon gut, wenn man als Patientin auch selbst wüsste, in welchem Wohlfühlbereich die eigenen Blutwerte liegen müssen. Bei manchen Patienten funktioniert das über das TSH, andere müssen in die freien Werte T3 und T4 einsteigen. Wer etwa Diabetes hat, muss sich auch einarbeiten und da sind die Risiken sogar noch größer, wenn es mit der Dosierung falsch läuft.

Offenbar gehen manche Patienten gar nicht mehr zu Endokrinologen, obwohl dies die Fachärzte für sie wären. Man hört davon, dass etwa in USA oder auch Frankreich mehr Wert auf die Behandlung der Schilddrüse gelegt werde, auch auf begleitende Nahrungsergänzung oder Ernährungsumstellungen. Warum behandeln deutsche Ärzte die Schilddrüse oft anders oder gar nicht, nicht einmal mit L-Thyroxin?

Damit Ärzte von sich aus L-Thyroxin anbieten oder erhöhen, möchten sie sicher sein, dass es etwas bringt. Behandlungsversuche in Grenzfällen werden wenige Ärzte anbieten oder einfach mal schauen, ob eine Behandlung mit L-Thyroxin etwas nutzt. Das liegt möglicherweise daran, dass das Risiko der Überfunktion bekannter ist als das einer Unterfunktion. Herzkreislaufprobleme und Osteoporose sind da als Überfunktionsrisiken einfach präsenter als Probleme bei Hashimoto, etwa Stimmungs- oder Gewichtsschwankungen und vielleicht ein unerfüllter Kinderwunsch. Denn die Symptome können auch auf andere Störungen hindeuten, die nichts mit der Schilddrüse zu tun haben, und die Patienten werden dann zu anderen Fachärzten geschickt, etwa zum Gynäkologen oder Psychiater. Vielleicht liegt es auch oft an einer konservativen Einstellung, lieber nichts zu machen als L-Thyroxin auszuprobieren. Dabei könnten die Ärzte das ja tun, sie haben Therapiefreiheit und könnten sagen: Wir probieren das einfach mal aus, ob es Ihnen damit besser geht. Warum nicht mehr Ärzte das machen, weiß ich auch nicht.

Viele Endokrinologen werden dann halt von Patienten nicht mehr konsultiert, wenn diese einfach abgewimmelt werden ohne Behandlung.

Dann fällt womöglich bei diesen Patienten auch der Ultraschall aus, den man doch ab und zu mal machen sollte, falls Knoten in der Schilddrüse entstehen. Wenn man alles nur mit einem Hausarzt ausmacht, ist das deshalb auch nicht so gut, auch wenn das in der Praxis oft besser funktioniert. Nuklearmediziner kämen aber auch noch infrage. 

Wie kann es sein, dass so viele Patienten um die Abnahme ihrer Blutwerte zu T3 und T4 kämpfen müssen, wenn ein solcher Laborwert doch nur wenige Euro kostet? Während auf der anderen Seite teure Gerätemedizin in manchen Fällen viel schneller verordnet wird?

Da haben die Krankenkassen und die Politik die Schwerpunkte falsch gesetzt, auch über die Budgetierung. Denn richtig teuer wird es, wenn Schilddrüsenkranke wochenlang in psychosomatischen Kliniken landen, wo sie sich dann gegenseitig ihre Schilddrüsenwerte erklären. Da könnte man viel Geld einsparen und vor allem diese Therapieplätze für Patienten vorhalten, die sie wirklich benötigen. Natürlich kann ein Schilddrüsenpatient auch Läuse und Flöhe haben, also etwa zusätzlich zu seiner Hashimoto-Erkrankung noch eine Depression. Aber wenn die Schilddrüsenwerte besser eingestellt sind, fühlt man sich auch besser und kann andere Probleme leichter angehen. Und man kann eben nicht sagen: Die Schilddrüsenwerte sind in der Norm, deshalb müssen die Beschwerden von etwas anderem kommen. Da braucht es viel mehr Fingerspitzengefühl. Bei Ärzten, aber vielleicht auch bei einem selbst.

Viele – Ärzte und Patienten – wissen auch gar nicht, dass man nicht nur L-Thyroxin, sondern im Zweifel auch T3 geben kann, was manchen Patienten hilft, anderen wiederum nicht. Woran liegt das – und wie haben Sie sich selbst in das Thema eingearbeitet? In Ihrem Ratgeber gibt es dezidierte Tipps dazu.

Der ganze Online-Ratgeber, wie er heute ist, ist eine Mischung aus dem, was sich in der medizinischen Literatur eben doch dazu finden lässt, sich aus grundlegenden Zusammenhängen ergibt oder vielen Erfahrungen, die ich in mehreren Internetforen mitgelesen habe. Wenn man öfter gesehen hat, wie sich die Laborwerte unter T3 entwickeln, dann ist schon auch klar, dass die T3-Dosis, die in vielen Kombi-Präparaten mit drin ist, sehr hoch ist. Einerseits sind Ärzte sehr vorsichtig bei T4, also L-Thyroxin, wegen der Auswirkung auf Herz und Knochen. Andererseits ist man aber manchmal bei T3 sehr sorglos und steigt mit einer hohen Dosis ein. Man müsste auch bei T3 viel feiner dosieren und es über den Tag hinweg verteilen, weil es schneller wirkt als T4 und eine viel kürzere Halbwertszeit hat.

Und was halten Sie von Schweine-Thyroxin, worauf manche schwören und wiederum andere warnen?

Schweinethyroxin ist natürlich für den Hormonbedarf der Schweine. Die haben ein anderes Verhältnis von T3 zu T4 als der Mensch. Deshalb passt das eben doch nicht immer perfekt für die Patienten. Die sind dann entweder unterdosiert oder müssen noch L-Thyroxin mit dazunehmen.

Deshalb geht es wohl vielen Patienten zunächst besser damit als mit L-Thyroxin allein, am Ende setzen sie es aber doch wieder ab?

Ja, man könnte dann eine niedrige Dosis des Schweinethyroxin als T3-Ersatz verwenden, denn das sind gebundene Hormone, die nicht so schnell wirken wie Tropfen und Tabletten von T3 allein. Das reicht dann aber nicht. Meist muss noch L-Thyroxin dazugegeben werden.

Wie stehen Sie zu Nahrungsergänzungsmitteln, Nahrungsumstellungen oder auch Jod für Hashimoto-Patienten?

Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind sehr verbreitet, man sollte deshalb ausprobieren, Dinge wegzulassen, die man nicht so gut verträgt. Speziell beim Thema Gluten ist wichtig, dass man sich bei einem Verdacht auf Zöliakie testen lässt, denn das ist auch eine Autoimmunerkrankung. Da funktioniert die Diagnostik nicht mehr, wenn man Gluten vorher weg lässt. Ansonsten gilt für Hashimoto-Patienten wie bei anderen Menschen auch: Der eine verträgt dies nicht so gut, der andere jenes. Da lässt sich wenig an der Schilddrüsenerkrankung festmachen. Nur beim Jod, da sollte man aufpassen: Die 200 Mikrogramm täglich, die der Arbeitskreis Jodmangel als täglich vertretbare Menge nennt, hat man schnell zusammen, wenn man jodiertes Speisesalz nimmt und noch Milchprodukte isst und trinkt. Außerdem kann es sich lohnen, die Blutwerte zu Eisen, B12, Selen und im Winter noch Vitamin D zu messen, denn diese Mängel sind sehr verbreitet. Bei Zink ist es schwieriger, einen Mangel festzustellen, da sind aber wiederum niedrige Dosen bei der Einnahme ungefährlich, insofern eventuell bei Hashimoto zu empfehlen. Ich bin aber eher dafür, die richtige Medikamentendosis zu finden, als vorschnell in Richtung Ernährung oder Nahrungsergänzung zu schauen, denn damit erzielt man oft bessere Ergebnisse.

Das bedeutet: Es kann sich für Hashimoto-Patienten lohnen, den beschwerlichen Weg der Dosisfindung über Monate und manchmal gar Jahre zu verfolgen, bis man endlich die optimale Dosis für sich gefunden hat?

Die Suche nach der optimalen Dosis lohnt sich. Die Menschen sind da auch ganz unterschiedlich empfindlich, was die Breite der Dosis angeht, die sie vertragen. Vielleicht gehen viele Ärzte einfach in der Mehrheit von diesen unempfindlicheren Patienten aus.

Offenbar kann sich diese Empfindlichkeit auch während des Lebens ändern? Unser Beispiel Ella etwa hat 20 Jahre lang ihre Schilddrüsenmedikamente problemlos vertragen und dann auf einmal nicht mehr. Sie erlebt jetzt eine Odyssee, die manche Patienten zu Beginn der Diagnose durchmachen – und noch schlimmer.

Es kann auch sein, dass sich im Laufe des Lebens der Bedarf an Schilddrüsenmedikamenten bei Hashimoto ändert. Wenn die Schilddrüse durch die chronische Entzündung immer kleiner wird, braucht man mehr L-Thyroxin. Man braucht aber eher weniger, wenn man sich weniger bewegt, in die Wechseljahre kommt, die Pille absetzt, usw. Auch wenn man meint, für sich eine gute Dosis gefunden zu haben, kann sich der Bedarf wieder ändern. Da das schleichend passiert, fällt das den Patienten oft selbst nicht auf. Deshalb sollte man mit Hashimoto immer gut über seine Blutwerte informiert sein – und am besten einen Arzt finden, mit dem man gut zusammenarbeitet.