Gesundheit

Kliniken vor dem Aus: Drohen Berlin Lücken in der stationären Versorgung?

Deutschlands Krankenhäuser müssen wegen stark gestiegener Kosten sechs Milliarden Euro Schulden im Jahr machen. Die Politik schaut zu, nimmt Insolvenzen in Kauf.

Eine Assistenzärztin schiebt auf der Intensivstation des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe das Krankenbett eines Patienten.
Eine Assistenzärztin schiebt auf der Intensivstation des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe das Krankenbett eines Patienten.Christoph Soeder/dpa

Können Berlins Kliniken die Menschen in der Stadt weiter sicher versorgen? Marc Schreiner kann das nicht garantieren, der Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG) sagt: „Wir können nicht ausschließen, dass es zu Insolvenzen und zu einer Ausdünnung der Versorgung kommt.“ Inflation und gestiegene Tarife beim Personal würden schwer auf den Häusern lasten, sagt Schreiner. Die Bundesregierung komme nicht ihrer Verpflichtung nach, die Betriebskosten ausreichend zu finanzieren. „Schon heute schreibt bundesweit fast keine Klinik mehr schwarze Zahlen.“  

Deshalb sind sie in ganz Deutschland an diesem 20. Juni auf die Straße gegangen: Manager, Beschäftigte und Funktionäre der Branche. In Berlin demonstrierten an dem Aktionstag vor dem Hauptbahnhof schätzungsweise 1000 Menschen. Darunter laut Schreiner Vertreter aller Berliner Klinikträger. Die rechnen für das kommende Jahr mit einem Defizit von insgesamt rund 400 Millionen Euro.

Für das gesamte Bundesgebiet stellt Gerald Gaß die Rechnung auf, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) sagt: „Aufgrund der drastisch gestiegenen Kosten müssen wir uns als Krankenhäuser zusammen im Jahr mit sechs Milliarden Euro verschulden, um die Patientenversorgung sicherzustellen.“ Denn anders als in der freien Wirtschaft, im Handwerk etwa, können die Kliniken ihre Preise nicht an die Situation anpassen. Was die Krankenkassen erstatten, ist festgeschrieben. Landesbasisfallwert heißt das Instrument im Bürokratendeutsch. Derzeit scheint es ein Folterinstrument zu sein.

Was es bewirkt, beziffert der Berliner Marc Schreiner in Prozent: „Die Kosten sind um 15 Prozent gestiegen, die Preise dürfen aber nur um vier Prozent steigen. Dazwischen klafft eine große Finanzierungslücke.“ Beinahe wöchentlich erreicht den DKG-Chef Gaß die Nachricht einer Insolvenz. „Diese Welle wird sich im zweiten Halbjahr 2023 noch verstärken, wenn die Wirtschaftsprüfer ihre Prognosen für die Folgejahre abgeben.“ Dann würden etliche Krankenhäuser kein Geld mehr von ihren Banken bekommen.

Aus für Kliniken: 250 Standorte in zehn Jahren geschlossen

Rund 250 Klinikstandorte sind in den zurückliegenden zehn Jahren bereits für immer von der Landkarte verschwunden. „Es gibt also schon einen Veränderungsprozess“, sagt Gaß. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) plane zwar eine große Reform der Kliniklandschaft, sagt der Funktionär, und tatsächlich spreche sich auch die Branche dafür aus. Kleinere Einrichtungen könnten fusionieren, dadurch Synergien schaffen, Kosten senken. „Das muss man aber aktiv politisch gestalten.“

Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft, steht im Rahmen des bundesweiten Protesttags der Deutschen Krankenhausgesellschaft auf dem Washingtonplatz.
Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft, steht im Rahmen des bundesweiten Protesttags der Deutschen Krankenhausgesellschaft auf dem Washingtonplatz.Joerg Carstensen

Ein solcher geordneter Prozess lässt sich nicht umsonst realisieren. Mit rund 50 Milliarden Euro über zehn Jahre rechnet Gaß, um Fusionen zu begleiten, um Telemedizin und Digitalisierung voranzubringen. Geld, das die Bundesregierung offenbar nicht bereit ist auszugeben. Sylvia Bühler kommt jedenfalls zu diesem Schluss. Sie verantwortet im Bundesvorstand der Gewerkschaft Verdi den Bereich Gesundheit. Bühler sagt: „Es kann nicht sein, dass die Gesundheitsversorgung zwischenzeitlich vom Bundesfinanzminister gemacht wird. Nach allem, was man weiß, blockiert Christian Lindner die Ausgaben, die nötig wären, um Insolvenzen abzuwenden.“ 

Verdi solidarisiert sich mit den Krankenhäusern. Denn auch die Gewerkschafterin Bühler will verhindern, dass ein Kliniksterben zulasten der Menschen geht, die stationär versorgt werden müssen. Sie denkt zugleich an die Beschäftigten, das Pflegepersonal zumal, das schon jetzt fehlt. Einige Zehntausend, fürchtet sie, könnten ihren Beruf aufgeben, da sie neben der Belastung im Job nicht auch noch durch lange Wege zum Arbeitsplatz in Kauf nehmen würden.

Dazu muss es nicht kommen. Nicht einmal die gesetzlich Krankenversicherten müssten für die benötigten sechs Milliarden Euro pro Jahr geradestehen, müssten keine höheren Beiträge fürchten. Wenn der Staat die Kosten für die Bezieher von Bürgergeld in voller Höhe übernehmen würde. Wie im Koalitionsvertrag versprochen. Stattdessen werden die Kunden der gesetzlichen Kassen zusätzlich belastet. 

Fair und bei gesicherter Versorgung, sagt dann auch der DKG-Vorsitzende Gaß, könnten so die kommenden zwei, vielleicht drei Jahre überbrückt werden. So viel Zeit veranschlagt Minister Lauterbach, bis eine große Reform Wirkung entfalten könnte. Unter den Kritikern mehren sich die Stimmen, die vermuten, der Strukturwandel solle nun durch Insolvenzen beschleunigt werden.

Der BKG-Manager Schreiner hat sich zuletzt dieses Eindrucks nicht erwehren können. „Ich habe Herrn Lauterbach vergangene Woche in Berlin erlebt, als er sehr gelassen von einer größeren Zahl von Krankenhaus-Insolvenzen sprach, die unmittelbar bevorstehen“, sagt Schreiner. Dabei sei der Gesundheitsminister dafür verantwortlich, dass die Betriebskosten der deutschen Kliniken gedeckt seien. „Wenn er jetzt so gelassen über Insolvenzen spricht, muss man fast schon von Vorsatz ausgehen.“