Das Wort Katastrophe ist mit Bedacht zu verwenden, aber in diesem Fall durch Zahlen unterlegt. Rund fünf Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. 2050 werden es laut Prognosen 7,5 Millionen sein. Und noch eine katastrophale Zahl: 400.000 Pflegebedürftige sind schon jetzt auf Sozialhilfe angewiesen.
Es bedarf keiner besonderen Kombinationsgabe, um daraus zu folgern: Das Armutsrisiko durch Pflege nimmt zu. Es wird eine Generation treffen, die vielfach mangels auskömmlicher Rente ohnehin scharf kalkulieren muss. Wenn sich nicht grundlegend etwas ändert, ist diese Katastrophe programmiert, das öffentliche Interesse daran aber überschaubar. Der Tag der Pflege, der 12. Mai, wird daran nichts ändern.
Niemand möchte im Alter nach Minuten betreut werden, ein Programmpunkt von vielen einer gestressten Pflegekraft sein, die am liebsten ihren Job aufgeben würde, aber ihre Klienten nicht im Stich lassen will. Niemand möchte seinen Lebensabend in einem Doppelzimmer mit einer anderen Person verbringen, ruhiggestellt, weil das Personal des Heims mit der Arbeit nicht hinterherkommt. Keine Familie möchte mit der körperlichen, nervlichen, finanziellen Last der häuslichen Pflege allein dastehen. Immerhin 4,2 Millionen Menschen werden von Angehörigen betreut, das sind rund 84 Prozent der Pflegebedürftigen.
Allerdings werden Menschen nicht gern daran erinnert, dass sie verletzlich sind, dass sie in ihrem letzten Lebensdrittel auf Hilfe angewiesen sein könnten. Diese Art der Verdrängung ist emotional verständlich. Pflichtvergessen ist sie bei politisch Verantwortlichen. Ihr Auftrag lautet, das Gesundheitssystem zukunftsfähig zu machen. Doch statt es grundsätzlich zu reformieren, gibt es bisher nur Reförmchen.
Pflege: Das System steht unter hohem Kostendruck
Auch nach den aktuellen Vorhaben des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) wird das Gesamtsystem einem hohen Kostendruck ausgesetzt bleiben. Akut spürbar ist er momentan zum Beispiel bei Arzneimitteln. Einige Medikamente sind seit langem knapp, weil sie günstig außerhalb Europas produziert werden und von fragilen Lieferketten abhängen. Chronisch spürbar wird der Druck bei Ärzten, Therapeuten und nicht zuletzt beim Pflegepersonal.
Laut einer Umfrage der Diakonie müssen vier von fünf Einrichtungen dieses größten deutschen Wohlfahrtsverbands ihre Leistungen einschränken: Beschäftigte sind krank, neue Mitarbeiter schwer zu finden. Angesichts dieses Befunds sieht die Zukunft finster aus: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente, Tausende Mediziner, Therapeuten, Pflegekräfte müssen irgendwann selbst gesundheitliche Versorgung in Anspruch nehmen. Angebot und Nachfrage klaffen weiter auseinander. Die Entwicklung ist seit Jahrzehnten klar, seit Jahrzehnten wird keine Vorsorge getroffen.
Typisch für eine Politik, die an Symptomen herumdoktert, statt die Ursache der Krankheit zu bekämpfen, ist die diskutierte Rekrutierung ausländischen Pflegepersonals. Statt Arbeitsbedingungen zu schaffen, die den Job für Schulabgänger attraktiv erscheinen lassen. Geradezu unverschämt ist dabei, dass ein durch Sparzwang geschaffenes Problem ans Ausland weitergereicht wird. Nach eben jenem Prinzip, dass derzeit bei Arznei, bei Antibiotikasäften etwa angewandt wird, deren Einfuhr erleichtert wurde.
Es ist eine merkwürdige Mischung aus Planwirtschaft und Marktwirtschaft, die das System in Schieflage bringt. Zum Beispiel: Einerseits ist klar geregelt, was eine Leistung kostet. Andererseits wird ein freier Wettbewerb propagiert, der aber unter diesen Voraussetzungen nicht funktionieren kann. So haben inzwischen gewinnorientierte Unternehmen die lukrativen Bereiche der stationären medizinischen Versorgung erschlossen, im ambulanten Sektor sind sie dabei. Die Aufgaben, die keinen Gewinn versprechen, werden der Allgemeinheit überlassen. Die Lauterbach’sche Klinikreform wird daran wenig ändern. Sie dürfte einen Konzentrationsprozess eher fördern als bremsen.
Ein Wettbewerb, der keiner ist
Den Beweis seiner fehlenden Effizienz zeigt der Wettbewerb besonders deutlich bei den Krankenkassen: Welchen Sinn könnte es haben, dass knapp 100 Kassen mit eigener Verwaltung und Vorstand Leistungen nach einem festen Katalog abrechnen? Verbessert sich die Versorgung für einen gesetzlich Versicherten, weil ein privat Versicherter bevorzugt behandelt wird, zumindest solange er seine Beiträge entrichtet? Warum zahlen nicht alle in denselben Topf ein, die Starken wie die Schwachen? Warum dieser Pseudo-Wettbewerb? Cui bono? Wer profitiert davon?



