Gesundheit

Kinderkliniken an Karl Lauterbach: Dem System droht der nächste Kollaps

Eine Petition mit 67.000 Unterstützern fordert mehr Geld für medizinische Versorgung von Kindern. Gesundheitsminister Lauterbach verspricht, dafür zu sorgen.

Ein Kleinkind im Klinikbett. Viele Kinderstationen geraten regelmäßig an ihre Grenzen.
Ein Kleinkind im Klinikbett. Viele Kinderstationen geraten regelmäßig an ihre Grenzen.Marijan Murat/dpa

Karl Lauterbach ist extra auf die Dachterrasse des Reichstags gegangen. Am Freitag war das, als in Berlin der Regen kein Ende zu nehmen schien. Gerade hatte der Bundesgesundheitsminister eine Petition entgegengenommen, Titel: „Versorgung kranker Kinder sichern – politische Versprechen halten – Kinderheilkunde stärken!“ Mehr als 67.000 Menschen unterstützen diese Forderung. Mit der Zahl auf einer Tafel posierte Lauterbach nun vor einer Kamera, eine Hand über dem Kopf. „Ich lasse euch nicht im Regen stehen“, sollte das wohl heißen.

Steffen Jürgensen hofft, dass es nicht nur bei dieser Geste des SPD-Politikers bleibt. Der Professor ist Vorstand des Uniklinikums Stuttgart, arbeitete zuvor 20 Jahre lang an der Berliner Charité. Er ist mit den beiden größten Kinderkliniken Deutschlands bestens vertraut. Er hat die Petition im vergangenen Winter mit auf den Weg gebracht. „Unsere Botschaft lautet“, sagt Jürgens: „Wir brauchen dringend Unterstützung.“

Dass sich jetzt ein Termin mit Karl Lauterbach ergab, ist eine glückliche Fügung. Am kommenden Donnerstag nämlich will der Minister die Eckpunkte seiner Klinikreform der Öffentlichkeit präsentieren. Als tiefgreifend hat er die Pläne angekündigt, nach ersten Gesprächen mit Ressortkollegen der Bundesländer allerdings schon Abstriche gemacht. Jürgensen sieht in der Petition nun eine Art Gedächtnisstütze. Denn die Lage der Kindermedizin ist prekär.

Innerhalb der zurückliegenden drei Jahrzehnte ging in der Pädiatrie die Zahl der Klinikbetten um 40 Prozent zurück. Dass das System Krisen nicht gewachsen ist, zeigte sich im vergangenen Winter. Eine Infektionswelle erfasste damals das Land. Nahezu jede Kinder-Rettungsstelle verzeichnete ein stark anwachsendes Aufkommen an Patienten. In rund einem Drittel der Notaufnahmen stieg die Auslastung um 20 bis 40 Prozent, in einem weiteren Drittel um 40 bis 60 Prozent. Patienten mussten verlegt werden. Von Berlin zum Beispiel nach Cottbus

Steffen Jürgens überreicht symbolisch die Petition an Karl Lauterbach.
Steffen Jürgens überreicht symbolisch die Petition an Karl Lauterbach.Volkmar Otto

Nun hat der Sommer begonnen, Infekte spielen derzeit kaum eine Rolle. „Trotzdem kommt es weiterhin dazu, dass Kinder verlegt werden müssen, weil alle Betten belegt sind“, berichtet Jürgensen. Dabei ist das System insgesamt anfällig, ambulante und stationäre Versorgung stehen in Wechselwirkung. „Bei den niedergelassenen Hals-Nasen-Ohren-Ärzten gab es zuletzt eine Phase, in der sie überlastet waren.“ Ambulante Eingriffe waren nicht möglich, Eltern wandten sich ans Stuttgarter Universitätsklinikum. Hier wird eine andere Fachrichtung extrem nachgefragt, die OP-Termine in der Kinder-Orthopädie sind bis Dezember ausgebucht.

Eines der Hauptprobleme der stationären medizinischen Versorgung sind die Fallpauschalen, nach denen Krankenkassen Behandlungen von Kindern seit zwei Jahrzehnten vergüten. Bezahlt werden lediglich die am Patienten erbrachten Leistungen. Allerdings kann die Behandlung eines Kleinkindes länger dauern, für mögliche Belastungsspitzen müssen auch in ruhigen Zeiten Personal und Technik vorgehalten werden. Die Kosten dafür tragen die Kassen bisher nicht. Lauterbach möchte das nun ändern, möchte in der Kinderheilkunde ebenso wie in der Geburtshilfe erreichen, dass Krankenhäuser stärker nach ihrem tatsächlichen Bedarf finanziert werden.

In 30 Jahren 100 Kinderabteilungen weniger

Dass die Zahl der pädiatrischen Abteilungen seit Anfang 1990 binnen drei Jahrzehnten um rund 100 auf 234 sank, ist nicht nur ein Problem der Provinz. Auch in Berlin ist der Bedarf groß. Allein in der Kinderrettungsstelle des landeseigenen Klinikkonzerns Vivantes werden pro Jahr etwa 24.000 Fälle behandelt.

„Wenn Kinderkliniken keine Defizite mehr einfahren“, hat der Vivantes-Geschäftsführer Johannes Danckert dieser Zeitung unlängst gesagt, „können auf mittlere Sicht wieder mehr Kapazitäten in diesem Bereich entstehen und sich die Arbeitsbedingungen verbessern.“ Fachkräfte fehlen auch in diesem Sektor des Gesundheitswesens.

Der Systemwechsel, den Danckert, Jürgensen und viele andere fordern, darf nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Denn die hohe Inflation und deutlich gestiegene Preise, insbesondere für Energie, Ausstattung und Unterhalt der Krankenhäuser, setzen deren Träger insgesamt unter Druck; die meisten schreiben laut Krankenhaus-Barometer rote Zahlen. Kritiker wie Marc Schreiner als Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft werfen Lauterbach Untätigkeit vor.

Für seinen Fachbereich formuliert es Steffen Jürgensen so: „Die Kinderheilkunde ist seit Jahren systematisch unterfinanziert. Im Koalitionsvertrag wurde eine auskömmliche Finanzierung der Kinderheilkunde angekündigt.“ Karl Lauterbach habe die Diagnose des kranken Systems korrekt gestellt. „Was jetzt zählt, ist die wirksame Therapie.“ Mit Symbolfotos im Regen ist jedenfalls keinem Kind geholfen.