Die Frau lebte seit Jahren mit der Gefahr, hatte bereits versucht, sich umzubringen, doch eine Therapie half. Feste Tagesabläufe, soziale Kontakte. Ihr Zustand stabilisierte sich, dauerhaft, so sah es jedenfalls aus. Dann kam Corona, Deutschland ging in den Lockdown. Die Frau fühlte sich einsam, und das Gefühl wuchs in ihr, düster und schwer. Vergeblich suchte sie nach Wegen aus der Isolation, gab schließlich auf und unternahm erneut einen Selbstmordversuch.
Stefanie Bresnik berichtet über die Frau, weil sie sich an sie gewandt hat. Und weil ihr Schicksal zeigt, dass die Pandemie lange nachwirken wird, selbst dann noch, wenn das Virus kontrollierbar ist. Dass es ein Long Covid nicht nur für den Körper geben kann, sondern auch für die Seele.
Stefanie Bresnik unterstützt Menschen mit schweren psychischen Problemen dabei, ihr Leben selbstbestimmt zu meistern, besucht sie zu Hause, bietet Gespräche in einer Beratungsstelle an. „Ein niederschwelliges Angebot, davon gibt es im sozialpsychiatrischen Bereich sehr viele“, sagt die gelernte Krankenschwester. Als Sars-CoV-2 nach Deutschland kam, erhöhten sich allerdings die Hürden.
Für manche wurden sie unüberwindlich. „Ich habe versucht, die Dame in eine Tagesstätte für psychisch Kranke zu vermitteln, denn mir war klar, dass es eilt“, berichtet Bresnik, die für sich behalten möchte, wo und für welchen sozialen Träger sie damals tätig war, „aus Rücksicht auf den Arbeitgeber“.
UN: Depressionen und Angststörungen um ein Viertel gestiegen
Es war Sommer, als sie zu suchen begann, die Infektionszahlen gingen zurück. „Trotzdem nahmen die Einrichtungen keine neuen Klienten auf. Sie hatten Angst, dass sich die Corona-Lage wieder verschlechtern könnte.“ Drei Monate bemühte sich Stefanie Bresnik. Doch drei Monate waren zu viel.
Geschichten wie diese haben sich während der Pandemie überall zugetragen, in Berlin, Brandenburg, Deutschland, weltweit. Das Regionale Informationszentrum der Vereinten Nationen (UNRIC) vermeldete in einem Bulletin vom Juni einen starken Anstieg psychischer Krankheiten durch Corona. Demnach nahmen die Fälle von Depressionen und Angststörungen allein im ersten Jahr der Pandemie um ein Viertel zu.
Nicht immer endeten die Geschichten mit einem Suizid, und dennoch können sie tödliche Folgen haben, mit Verzögerung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass psychisch kranke Menschen eine um zehn bis 20 Jahre verkürzte Lebenserwartung haben. Stefanie Bresnik erklärt: „Bei Depressionen sind es im Durchschnitt sieben bis elf, bei bipolaren Störungen neun bis 20 Jahre.“
Die WHO beklagt, alle Länder der Erde hätten die mentale Gesundheit ihrer Bevölkerung seit Jahrzehnten vernachlässigt und müssten sich stärker engagieren, müssten Betroffenen mehr helfen. Stefanie Bresnik sagt: „Es hieß in der Pandemie ja immer, wir sollen die vulnerablen Gruppen schützen. Letztlich haben die Maßnahmen dafür gesorgt, dass sich die Lage für Menschen mit seelischen Erkrankungen zum Teil dramatisch verschlechtert hat.“
Ein Dilemma. Einerseits sollte die Isolation all jene vor schwerer Krankheit oder sogar dem Tod bewahren, deren Körper mit dem tückischen Erreger schlecht fertig wird, aus Altersgründen oder wegen Vorerkrankungen. Andererseits führte die Isolation selbst zu Krankheiten oder verstärkte bereits bestehende Beschwerden.
Bresnik sagt, dieses Dilemma hätte früher aufgelöst werden müssen, flächendeckend im ganzen Bundesgebiet, in jeder Einrichtung. „Mein Träger zum Beispiel hat zügig ein Hygienekonzept erarbeitet. Wir haben nach wenigen Wochen wieder aufgemacht und sofort gespürt, wie dankbar die Menschen waren, eine Anlaufstelle zu haben“, erzählt die Betreuerin. „Manche Einrichtungen dagegen haben erst in diesem Frühjahr so richtig begonnen, ihre Arbeit im vollen Umfang zu machen wie vor Corona. Davor haben viele Pfleger ihre Klienten nicht zu Hause aufgesucht, nur noch per Telefon kommuniziert.“
Jeder Fünfte bekam keinen Behandlungstermin
Bresnik war das unbegreiflich. „Wer im Gesundheitswesen arbeitet, weiß in der Regel, wie man mit infektiösen Menschen umgeht und wie man selbst andere vor Infektionen schützt. Doch viele Kollegen aus der Eingliederungshilfe haben völlig irrational gehandelt. Dabei gab es doch Lösungen.“ Zum Beispiel Treffen im Freien, ohne Ansteckungsrisiko. „Wir haben das so gemacht.“
Das war die eine Seite, die des Angebots. Gleichzeitig stieg die Nachfrage deutlich. „Nach dem ersten Lockdown explodierte förmlich die Zahl derer, die bei uns Hilfe gesucht haben“, sagt Bresnik. „Gefühlt gab es doppelt bis dreimal so viele Anfragen im Vergleich zu den Jahren vor Corona. Auch waren die Geschichten dahinter viel extremer.“ Oft habe sie gedacht: „Oh je, da liegt aber sehr viel im Argen.“ Corona und die Folgen brachten tieferliegende Probleme erst an die Oberfläche.
Die Deutsche Depressionshilfe hat die Situation im zweiten Lockdown bewertet, der hierzulande von Dezember 2020 bis Mai des Folgejahres dauerte. Der repräsentativen Erhebung vom Februar 2021 zufolge verschlechterte sich bei 44 Prozent der Patienten mit einer diagnostizierten Depression der Zustand innerhalb der zurückliegenden sechs Monate bis hin zu Suizidversuchen.
Mehr als jeder fünfte Betroffene, der akut erkrankt war, bekam keinen Behandlungstermin, bei rund 22 Prozent war das so. Die Situation hatte sich damit nochmals im Vergleich zum ersten Lockdown verschlechtert. Da suchten 17 Prozent vergeblich Hilfe.
„Auch für die Allgemeinbevölkerung ohne psychische Erkrankung ist die Situation aktuell deutlich belastender als im 1. Lockdown. Immer mehr ziehen sich zurück, die Sorgen um die berufliche Zukunft und die familiäre Belastung nehmen zu“, fasste die Stiftung ihre Erhebung 2021 zusammen. Der Befund deckt sich weitgehend mit einer Analyse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD), die für das gesamte vergangene Jahr einen Anstieg bei Depressionen verzeichnete sowie bei Erkrankungen durch Angst oder Stress.
Peter Brieger weiß aus seiner täglichen Praxis um die Zusammenhänge von gesellschaftlichen und persönlichen Krisen. Der Professor für Psychiatrie und Psychotherapie ist ärztlicher Direktor am kbo-Isar-Amper-Klinikum in München. Er sagt: „Soziale Kontakte erhöhen die Lebenserwartung. Auch in Krisen müssen deshalb soziale Kontakte möglich sein.“
Als Vizepräsident der Aktion Psychisch Kranke (APK) will Brieger sich dafür starkmachen. „Die APK hat ja eine Scharnierfunktion zwischen Psychiatrie und Politik.“ Diese Funktion erscheint wichtiger denn je, denn die Gesellschaft steht vor einer besonderen Herausforderung. „Gleich drei Krisen überlagern sich im Moment“, sagt APK-Vorsitzende Kirsten Kappert-Gonther, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, die als Bundestagsabgeordnete der Grünen dem Gesundheitsausschuss vorsteht.
Zu der Pandemie kommt der Klimawandel, dessen Folgen immer stärker spürbar werden. Und schließlich strahlt der Krieg in der Ukraine Richtung Westen aus. Die Preise für Energie sind sprunghaft gestiegen, haben die Inflation angeheizt. „Das alles führt zu Unsicherheit und Angst“, sagt die APK-Vorsitzende.
Ihr Vize Brieger warnt vor den Konsequenzen der „enormen finanziellen Drucksituation“, die sich mehr und mehr aufbaut. Armut sei ein entscheidender Faktor für psychische Krisen, sagt der Münchner Professor. „Nicht nur Einsamkeit macht krank, sondern auch schlechtes Wohnen und Arbeitslosigkeit spielen eine wichtige Rolle.“
Die Politik müsse in diesen drei Bereichen für Sicherheit sorgen, sagt Brieger. „Wenn viel Druck auf dem Kessel ist, sucht er sich ein Ventil. Das äußert sich durch Ausgrenzung von nicht normgerechtem Verhalten, wie es während der Corona-Pandemie zum Beispiel in der Impfdebatte zu beobachten war.“ Kirsten Kappert-Gonther sieht unterdessen die Gefahr, „dass schwer und chronisch Kranke wieder ausgegrenzt werden, wenn der gesellschaftliche Druck erneut zunimmt“. Um das zu verhindern, sagt sie, „müssen alle mitreden dürfen“. Auch und vor allem die Betroffenen selbst und ihre Angehörigen.
Das ist es, was Stefanie Bresnik in der Corona-Krise besonders vermisst hat. „Die Perspektive der Betroffenen spielte überhaupt keine Rolle.“ Den politischen Slogan „Solidarisch sein, zu Hause bleiben“ fand sie zu pauschal, empfand ihn sogar als Hohn. „Ich habe ja gesehen, was das mit meinen Leuten macht.“ Es sei ein Rückschlag gewesen „nach den vielen Jahren, in denen wir in der Eingliederungshilfe sehr intensiv an sozialer Teilhabe und Gleichbehandlung gearbeitet und uns gegen Stigmatisierung engagiert haben.“







