Immunglobuline

Patienten mit Immundefekt: Die lebenswichtige Therapie wird knapp

Wer häufig schwere Infekte durchmacht, könnte einen angeborenen Immundefekt haben. Die Krankheit wird oft spät erkannt. Nun bangen Patienten um ihre Therapie.

Wer Plasma spendet, hilft damit auch Menschen mit einem geschwächten Immunsystem.
Wer Plasma spendet, hilft damit auch Menschen mit einem geschwächten Immunsystem.imago/Rupert Oberhäuser

Sie war 50 Jahre alt, als sie die Diagnose erhielt. Ulrike Stamm hatte innerhalb von vier Wochen mehrere schwere Infekte, suchte ihren Hausarzt auf und hatte Glück, dass schnell ein Verdacht aufkam, angeborener Immundefekt, der sich nach Untersuchungen an der Berliner Charité zu einer Diagnose erhärtete. „Für mich war das zunächst ein Schock“, sagt Ulrike Stamm. „Aber wenn man den erst einmal verarbeitet hat, kann man gut mit dem Befund leben.“ Bei der Mitarbeiterin der Humboldt-Universität sind es inzwischen zwölf Jahre, die sie damit lebt. Sie sagt: „Das Tolle ist, dass es eine wirksame Therapie gibt.“ Immunglobuline, hergestellt aus gespendetem Blutplasma, subkutan verabreicht, unter die Haut gespritzt.

Das ist die gute Nachricht, die schlechte: Immunglobuline sind in Deutschland rar. Und die Versorgungslage hat sich in diesem Sommer noch einmal drastisch zugespitzt, seit das Unternehmen Octapharma sein Produkt Cutaquig bis auf Weiteres vom Markt genommen hat. Es warf dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkasse (GKV) vor, unrechtmäßig Rabatte für das Präparat zu fordern, das 2020 ein anderes Medikament abgelöst hat.

Ein Kleinkrieg ist entbrannt, in dem das Unternehmen Kosten für die Entwicklung von Cutaquig und gestiegene Rohstoffpreise geltend macht. Aus Blutplasma Immunglobuline herzustellen, ist ohnehin aufwendig und dauert von der Spende bis zum fertigen Präparat rund neun Monate. Die GKV wiederum teilt auf Nachfrage mit: „Bei der Diskussion bezüglich der Rabatte geht es um die gesetzliche Grundlage des § 130a Abs. 3a SGB V (Rabatte der pharmazeutischen Unternehmer).“ Es finde „ein fachlicher Austausch“ mit Octapharma, den Mitgliedskassen der GKV und dem Bundesgesundheitsministerium statt.

Leidtragende des Konflikts sind jene, die sich hierzulande mehrmals pro Woche Immunglobuline spritzen müssen. Octapharma veranschlagt den Anteil derer, die auf Cutaquig eingestellt sind, auf 20.000 Menschen, rund ein Viertel derer, die dieses oder ein ähnliches Medikament benötigen. Wie viele Menschen überhaupt einen Immundefekt haben, ist nicht ganz klar.

Immundefekte: Rund 280 betreffen das Immunsystem

Volker Wahn hat sich am Berliner Universitätsklinikum Charité sehr lange mit dem Phänomen beschäftigt, der inzwischen emeritierte Professor sagt: „Ich gehe davon aus, dass wir nur die Hälfte der Betroffenen in Deutschland diagnostizieren.“ Rund 280 Gendefekte hat die Wissenschaft bisher identifiziert, die das Immunsystem beeinträchtigen, die an irgendeiner Stelle dieses hochkomplexen Mechanismus dafür sorgen, dass die Körperabwehr nicht funktioniert.

Ein erstes Indiz dafür sind heftige Infekte. Wie bei Ulrike Stamm, die das Glück einer schnellen Diagnose hatte. Viele Betroffene dagegen bringen vom Beginn der Beschwerden bis zum abschließenden Befund eine wahre Odyssee durch Arztpraxen und Kliniken hinter sich. „Wir erleben immer noch eine erhebliche Verzögerung der Diagnose“, sagt Professor Wahn. „Sie wird im Durchschnitt fünf bis acht Jahre nach den ersten Symptomen gestellt.“

Die Folgen sind zum Teil gravierend. „Das Hauptproblem sind wiederkehrende schwere Infektionen, die auch Organe zerstören können“, sagt Wahn. „Daneben kommt es zu sogenannten Autoimmunerkrankungen.“ Rheuma zum Beispiel. „Seltene Entzündungszustände treten auf“, erläutert der Mediziner. „Wir nennen das Autoinflammation.“ Manche Immundefekte begünstigen Krebs, weil sich Zellen, die aus dem Ruder laufen, nicht selbst abschalten, wie es die körpereigene Abwehr eigentlich vorsieht. Allergien können ebenfalls gehäuft auftreten. „Zu beobachten sind zudem ungewöhnliche Schwellungen der Lymphknoten und der Milz.“

Die meisten Patienten mit einem der mehr als 280 Immundefekte können keine Antikörper bilden. „Bei mehr als 50 Prozent ist das der Fall“, sagt Wahn. „Bei ihnen ist die Diagnose eigentlich ganz einfach.“ Ein Blick in den Impfpass genüge, ein Abgleich bei Tetanus oder Pneumokokken. „Wenn der Impfschutz eigentlich ausreichen müsste, sich aber zu wenige Antikörper nachweisen lassen, ist das ein klares Indiz.“

Säuglinge werden seit 2019 routinemäßig per Fersenblut auf solche Defekte hin untersucht. „Es gibt allerdings kein Alter, in dem eine Immunschwäche nicht erstmals auftreten kann“, sagt Wahn. „Das geht sogar bis zum 60., 70. Lebensjahr.“ Dann lässt die Schlagkraft des Immunsystems ohnehin nach, weil die Zahl der sogenannten naiven Abwehrzellen, die lernfähigen Antikörper, stark abnimmt, weswegen zum Beispiel die Ständige Impfkommission (Stiko) in Deutschland über 70-Jährigen bislang empfiehlt, sich gegen das Corona-Virus öfter als dreimal impfen zu lassen.

Die Symptome können noch so klar sein, nicht jeder Mediziner zieht daraus die richtigen Schlüsse. Wahn und Kollegen haben deshalb eine Initiative gegründet, die sich an Ärzte richtet und aufklären will. Find ID heißt sie. Doch selbst wenn die Diagnose unumstößlich feststeht, bleibt die Situation kritisch.

„Die Versorgungslage ist dramatisch“, sagt Gabriele Gündl, Bundesvorsitzende des Vereins Deutsche Selbsthilfe Angeborene Immundefekte (DSAI). Sie führe dazu, dass sich Patienten regelmäßig in einem Krankenhaus ein Medikament zur Stärkung der Körperabwehr intravenös, durch eine Infusion über die Blutgefäße, verabreichen lassen müssten. Dieses Verfahren erfordere deutlich mehr Zeit und Mühen.

Deutschland, und das ist das eigentliche Problem, hängt bei der Versorgung mit Immunglobulinen stark vom Ausland ab. „Rund 30 Prozent der Produkte müssen wir aus den USA zukaufen“, sagt Gründl. Und Professor Wahn erklärt, warum dies den Engpass weiter verschärft. „Sehr viele Spenden haben an der Grenze der USA zu Mexiko stattgefunden, doch diese Plasmaspender werden nicht mehr in die Vereinigten Staaten gelassen, weil es US-Präsident Donald Trump so wollte und sein Nachfolger Joe Biden daran festhält.“

Plasma-Spende ist an der Charité möglich

In der Bundesrepublik gebe es noch zu wenige Zentren, in denen speziell Plasma gespendet werden kann, über ein Verfahren namens Apherese, in Berlin immerhin an der Charité. „Es findet aber ein Umdenken statt“, sagt Wahn. „Deutschland baut Spendezentren auf, um sich unabhängig vom US-Markt zu machen.“

An potenziellen Freiwilligen sollte es nicht mangeln, meint der Professor. Zumal Plasma häufiger gespendet werden kann als Vollblut, da bei dem Verfahren, der Aphorese, der Körper des Spenders, abgesehen vom Plasma, alle anderen Bestandteile des Blutes wieder zurückerhält. Bis zu 60 Spenden jährlich sind so möglich, zehnmal mehr als beim Vollblut.

Dennoch nahm die Bereitschaft zu spenden mit Beginn der Corona-Pandemie stark ab. Die Unsicherheit war groß. Da es lange dauert, bis aus Plasma Immunglobuline hergestellt sind, ebbt auch dieser Engpass erst langsam ab. Und zu einem weiteren Problem scheint Sars-Cov-2 zu führen. Der Erreger beansprucht viel Aufmerksamkeit, führt zu Debatten um den Schutz vor Infektion. Diejenigen, die ihn am meisten benötigen, finden dabei allerdings kaum Gehör.