Die Welle kommt aus dem Süden, schwappt hinüber nach Nordosten und droht ganz Deutschland zu erfassen. Diese Welle ist blau eingefärbt, und das Blau bedeckt inzwischen auch drei Landkreise in Brandenburg: Oberspreewald-Neiße, Spree-Neiße und Oder-Spree – dort besteht das Risiko, sich mit FSME zu infizieren, der Frühsommer-Meningoenzephalitis, einer Form von Hirnhautentzündung. Übertragen wird sie durch Zecken.
Die blaue Gefahr macht das Robert-Koch-Institut (RKI) auf seiner Homepage sichtbar, die Welle ist in einer Grafik des Bundesgebiets dargestellt. Sie könnte für ein Problem stehen, das immer drängender wird hierzulande, obwohl es zunächst banal kling: Krankheiten breiten sich durch die Tierwelt aus. Der fortschreitende Klimawandel hat daran einen stetig wachsenden Anteil. Er führt zu Hitzewellen, wie für die kommenden Tage in Berlin wieder vorhergesagt. Extreme Wetterlagen häufen sich, Starkregen, Hagel, heftige Gewitter – mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen.
Eine Gruppe von Forschern der Universität Hawaii hat das Phänomen jetzt in Zahlen gefasst. Sie wertete 830 Studien weltweit aus und glich die Ergebnisse mit offiziellen Listen von Gesundheitsbehörden und darin aufgeführten Krankheiten ab. Nachzulesen sind die Erkenntnisse im Journal Nature Climate Change. Fazit: 58 Prozent der Leiden, die auf Erreger zurückzuführen sind, können durch den Klimawandel verstärkt werden. Unter Erregern verstehen die Forscher Viren oder Bakterien, aber auch Allergene, Pollen oder Algen, außerdem Gifte, die Tiere übertragen.
Höchststand bei FSME im Jahr 2020
So zahlreich wie die Erreger sind auch die Wege, auf denen sie Krankheiten verbreiten und verstärken. Bei Zecken zum Beispiel kommt es zu einem scheinbaren Paradox. Sie vertragen keine Trockenheit. Zum Überleben benötigen sie eine Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent, um den Verlust an Flüssigkeit durch Wärme auszugleichen; Zecken brauchen den Dunst der Nacht. „Insofern markiert das Jahr 2018 mit seinem extrem heißen Sommer einen Wendepunkt“, hat der auf Zecken spezialisierte Biologe Olaf Kahl dieser Zeitung gesagt. „Seitdem nimmt die Population ab. Die Zahl der FSME-Infektionen aber nimmt zu.“
Den vorläufigen Höchststand registrierte das RKI im Jahr 2020 mit 712 Fällen von FSME. Milde Winter lassen die Zecken früher aktiv werden. Die infizierten Tiere breiten sich über Nager oder Vögel Richtung Norden aus. Am häufigsten erkranken Menschen, die älter als 50 Jahre sind. Deutlich häufiger tritt Lyme-Borreliose auf, ebenfalls ausgelöst durch Zeckenbisse. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) ermittelte aus Daten der gesetzlichen Krankenversicherung von 2018 insgesamt 312.000 Patienten mit dieser Diagnose.
Der Hitzesommer 2018 markierte einen weiteren Wendepunkt. Zum ersten Mal ließ sich in Deutschland das West-Nil-Virus nachweisen. „Seitdem kommt es jährlich zu Krankheitsfällen bei Vögeln, Pferden und Menschen“, sagt Renke Lühken vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. „Die Übertragungswahrscheinlichkeit dieses Virus steigt bei zunehmenden Temperaturen.“ Einheimische Stechmücken geben den Erreger weiter.
Wie stark sich das West-Nil-Virus bisher ausgebreitet hat, ist nicht genau zu bestimmen. Laut RKI entwickeln lediglich rund 20 Prozent der infizierten Menschen Symptome, die jenen einer Grippe ähneln. Die bisher erhobenen Daten deuten jedoch darauf hin, dass das Virus in Deutschland inzwischen überwintern kann „und im Sommer ausreichend günstige klimatische Bedingungen vorfindet“, wie das RKI feststellt.
Asiatische Tigermücke breitet sich nach Norden aus
Steigende Temperaturen bieten mittlerweile auch exotischen Überträgern gute Lebensbedingungen. Berlin zum Beispiel ist der bis dato nördlichste Punkt Deutschlands, an dem sich Asiatische Tigermücken nachweislich vermehren. Ursprünglich aus Südostasien stammend, haben sie sich an den Küsten des Mittelmeeres vor einigen Jahren etabliert. Von dort aus wandern sie nun Richtung Norden, über Warenströme oder durch Touristen. Asiatische Tigermücken geben das Chikungunya-Virus weiter und verbreiten zudem Dengue-Fieber.
In ihren Hunderten Datensätzen entdeckten die Forscher der Universität Hawaii mehr als 1000 solcher Konstellationen weltweit. Mal sind es lang anhaltende Trockenperioden, die Wildtiere in Dörfer und Städte vordringen lassen, wodurch es zu sogenannten Zoonosen kommen kann: Erreger springen vom Tier auf den Menschen über. Mal breiten sich solche Erreger durch Starkregen und Überschwemmungen aus.
Generell, sagt der Hamburger Wissenschaftler Lühken, steige durch höhere Temperaturen und veränderte Niederschlagsregime insbesondere das Risiko für durch sogenannte Vektoren – also beispielsweise Stechmücken oder Zecken – übertragene Krankheitserreger. „Dies ist besorgniserregend, da nur für wenige diese Erreger zugelassene Impfstoffe existieren.“ Gegen Chikungunya etwa gibt es einen solchen Impfstoff nicht. Daran in Deutschland durch den Stich einer Asiatischen Tigermücke zu erkranken, halten Experten derzeit jedoch für unwahrscheinlich, denn das Tier müsste sich selbst erst einmal mit dem Virus infizieren.




