Kai Luehrs-Kaiser, geboren in Bremen, arbeitet als Musikkritiker für verschiedene Print-Medien, außerdem auf rbbKultur, wo er z.B. die Dienstags-Ausgabe der Reihe „Meine Musik“ moderiert. Promoviert hat er mit einer Arbeit über Robert Musil, Heimito von Doderer und Hans Henny Jahnn. An der Berliner Schaubühne betreute er Lesungen, eine Weile war er am Österreichischen Literaturarchiv beschäftigt. Er ist derselben Meinung wie Hanns Eisler, dass, wer nur etwas von Musik versteht, auch davon eigentlich nichts versteht.

Als „tief beschämend“ beschrieb es Kulturstaatsminister Wolfram Weimer in seiner Grußansprache, dass man sich schützend vor ein Orchester stellen müsse, dessen Dirigent, weil er Jude ist, vom Flandern-Festival <a href="https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/ausladung-von-lahav-shani-das-sagt-das-festival-zu-antisemitismus-vorwurf-aus-deutschland-li.2356257">ausgeladen worden sei</a>. „Herzlich willkommen zu Hause in Berlin, Lahav Shani!“, so sekundierte der Intendant der Berliner Festspiele, Michael Pees. <br><br>Die Münchner Philharmoniker hätten eigentlich am Mittwoch in Gent auftreten sollen. Doch war das Konzert unter Vorschützung politisch wirrer Motive abgesagt worden. <a href="https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/musik/lahav-shani-musikfest-holt-konzert-nach-boykott-in-belgien-ins-konzerthaus-berlin-li.2356424">Im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt sah sich das Orchester samt designiertem Chefdirigenten stürmisch empfangen</a>. Der Abend wurde mit <em>standing ovations</em> quittiert.

Die Münchner Philharmoniker, in Gent ausgeladen, kamen mit Dirigent Lahav Shani stattdessen ins Konzerthaus am Gendarmenmarkt nach Berlin-Mitte. Wie war der aufgeladene Abend wirklich?

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Lahav Shani nach gecanceltem Konzert in Belgien: Mit Richard Wagner gegen Antisemitismus in Berlin

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„Norma“, das ultimative Hauptwerk von Vincenzo Bellini, wäre ohne Maria Callas populärer. Die Primadonna assoluta wählte die gallische Druidenpriesterin zum Zentrum ihrer Laufbahn. Sie war legendär darin. Und hat, dank der gebieterischen Aura einer Tragödin, die Oper gleich zweimal unerreichbar eingespielt. Das hat zwar nicht alle Diven, aber doch alle Opernhäuser so dauerhaft entmutigt, dass man dem Meisterwerk heute im Opernalltag fast nie begegnet. Der letzte Versuch in Berlin, vor 25 Jahren an der <a href="https://www.berliner-zeitung.de/topics/staatsoper">Staatsoper</a>, scheiterte ziemlich. Dass man jetzt, zur szenischen Eröffnung der Festtage, eine Produktion vom Theater an der Wien nach Berlin holt, verrät Unsicherheit. Und präsentiert dem Publikum einen Opern-Klon, was zu Festtagspreisen sogar einigermaßen brüskiert.

Wo Maria Callas einst tragisch triumphierte, zeigt „Norma“ bei der Wiederausgrabung Unter den Linden nur die kalte Schulter. Fast ein Debakel, aber zu Sonderpreisen.

Bellinis „Norma“ zur Eröffnung der Festtage an der Berliner Staatsoper

Theater

Himmelhohe Portieren. Rosa Schleifchen. Und pelzbesetzte Hüte wie bei Greta Garbo als Anna Karenina. Das sind so einige der Schlüsselreize der Opernkonvention, die beim Publikum immer noch Freude auslösen können. In „Pikowaja Dama – Pique Dame“ zum Beispiel: Peter Tschaikowsky hatte in dieser Oper eine elegante, schmale und geniale Novelle von Alexander Puschkin in einen spätromantischen Opern-Flatschen verwandelt. Das ist nicht kritisch gemeint. Die ausladenden Dimensionen indes, dazu eine leichte Melodienschwäche, haben dem Werk eine ziemliche Seltenheit im Opernalltag beschert. An der Deutschen Oper Berlin, obwohl das einzig geeignete Haus vor Ort, versucht man sich erstmals seit Jahrzehnten daran.

Alle kreischen, doch eine hat dabei die Ruhe weg: Die 75-jährige Doris Soffel rettet als alte Gräfin Tschaikowskys „Pique Dame“ an der Deutschen Oper Berlin. Die Kritik.

„Pique Dame“ an der Deutschen Oper Berlin: Die „Tödliche Doris“ ist zurück – die Opernkritik

Ein gegessenes Herz. Die Geschichte vom Ehemann, der seiner Frau den besten Teil ihres Liebhabers als Tellergericht serviert, hat in der Literatur mehrfach die Runde gedreht. Von Boccaccio bis zu Ezra Pound war man von der Vorstellung, den Nebenbuhler aufessen zu lassen, fasziniert. Alle Fassungen des Stoffes gehen, soweit man annimmt, auf einen in Frankreich beheimateten Text des 13. Jahrhunderts zurück: „Guillem de Cabestanh – Le cœur mangé“. Auch die Oper „Written on Skin“ von George Benjamin basiert darauf. Jetzt, fast zwölf Jahre nach der Uraufführung, ist die Oper endlich auch in Berlin angekommen.

So lässig ging lange keine Opernpremiere mehr vorbei: „Written on Skin“, der Kannibalen-Welterfolg von George Benjamin, an der Deutschen Oper Berlin.

„Written on Skin“: Liebhaber zum Dessert – danach möchte niemand mehr etwas essen

Frankreich

Die Entstehungsgeschichte des Musicals „Chicago“ kriegt man sehr schön erzählt in dem Film „All That Jazz“ von Bob Fosse. Die Uraufführungsproduktion 1975 in New York, wie man dort lernen kann, lief eher schleppend an. Erst ein Revival 1996 machte das Stück berühmt. Gastproduktionen in Berlin hatten auch da noch ihre liebe Müh’. Im Theater des Westens war „Chicago“ seinerzeit kaum je voll. Das mag der in Berlin hochverehrte <a href="https://www.berliner-zeitung.de/topics/barrie-kosky">Barrie Kosky</a> als Herausforderung empfunden haben. Im <a href="https://www.berliner-zeitung.de/topics/schillertheater">Schiller-Theater</a> läutet er jetzt die Ausweich-Ära der <a href="https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/musik/abschied-von-der-komischen-oper-auf-leider-unbestimmte-zeit-li.357024">Komischen Oper</a> mit „Chicago“ ein. Seine Inszenierung kommt etwas zäh in Gang. Fängt sich aber später. Zu spät?

Feierliche Hauseinweihung: Mit dem Musical-Vaudeville „Chicago“ zieht die Komische Oper im Schiller-Theater ein. Barrie Kosky lässt Katharine Mehrling leuchten – zu sehr?

„Chicago“-Premiere in Berlin: Kosky und die Koskyetten – drei Drachen vom Musical-Grill

Kultur

Theater des Westens

Nichts gegen Moniuszko. Der „Vater der polnischen Nationaloper“ (wegen „Halka“) gilt als Stolz des Landes. Anders als sein Landsmann Frédéric Chopin kehrte er – nach drei Jahren in Berlin – in seine Heimat zurück. Klar, dass in unserer Zeit bei der von Festansprachen begleiteten Aufführung eines großen Bühnenwerkes von ihm die Philharmonie fast voll wird, auch wenn „Paria“ – so der Titel von Stanisław Moniuszkos letzter Oper – 1869 in Warschau recht erfolglos uraufgeführt wurde.

Es gleißt und blitzt wie eine Silberkrone: In der Philharmonie präsentiert das Teatr Wielki aus Poznań die letzte Oper von Stanisław Moniuszko.

Wie Polen die letzte Oper seines Nationalkomponisten in Berlin feiert

Kinshasa D&uuml;rre H&uuml;hner laufen im Zickzack zwischen Cellost&uuml;tzen herum. Hupende Posaunisten hocken auf Gartenst&uuml;hlen. Ihr Get&ouml;se vermischt sich mit dem Kieksen der Klarinetten und dem Fiepen der Fl&ouml;ten zu einer kakophonischen Katastrophe, die den Stra&szlig;enl&auml;rm von Kinshasa zu &uuml;bert&ouml;nen versucht. Das Orchester Symphonie Kimbangiste, das einzige Symphonieorchester Zentralafrikas, probt Ludwig van Beethoven, und es hat sich dazu auf einem Parkplatz hinter Wellblechz&auml;unen versammelt. &Uuml;ber allem schwebt eine dicke Staubwolke.Wenn man so will, ist Beethoven in der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo gerade erst angekommen. Vor 15Jahren erst wurde hier zum ersten Mal klassische Musik &ouml;ffentlich aufgef&uuml;hrt. In dem Moloch Kinshasa, in dem acht Millionen Menschen leben und wo selbst die Stra&szlig;enkinder bewaffnet sind, gibt es ebenso wenig einen Konzertsaal wie ein Kino. Die Instrumente, auf denen das Orchester tr&ouml;tet, schabt und faucht, haben die Musiker selbst gebaut, sofern sie nicht aus der belgischen Kolonialvergangenheit des Landes irgendwie &uuml;briggeblieben sind.Wie ein gutes Instrument klingt, oder wie Beethoven heute anderswo auf der Welt aufgef&uuml;hrt wird, das wei&szlig; man hier eigentlich nicht. Die Musik klingt trotz t&auml;glicher gemeinsamer Probenarbeit, als w&uuml;rde sie auf Ofenrohren, Zigarrenkisten und Fahrrad-Luftpumpen erzeugt.Macht nichts. Denn das Wunder besteht darin, dass man, wenn man diesem Orchester lauscht, mit den Tr&auml;nen k&auml;mpft, weil man glaubt, noch nie etwas Sch&ouml;neres geh&ouml;rt zu haben. Die begeisterte Truppe, die hier auf dem Parkplatz oder manchmal auch in einer benachbarten Betonhalle &uuml;bt, ist der ersch&uuml;tterndste und hinrei&szlig;endste Lebensbeweis klassischer Musik, den es &uuml;berhaupt geben kann.Das Orchester hat 200Mitglieder, aber nat&uuml;rlich kommen nicht immer alle. Da nur die wenigsten Musiker Noten lesen k&ouml;nnen, singen ihnen die anderen vor, was sie spielen sollen. Mit nach Hause nehmen d&uuml;rfen die Musiker die Instrumente nicht. Regelm&auml;&szlig;ige Konzerte gibt es nicht, wenn das Orchester auftritt, dann nur zu festlichen Anl&auml;ssen und unter freiem Himmel.Warum kommen sie t&auml;glich zur Probe auf den Parkplatz? Nathalie zum Beispiel qu&auml;lt sich jeden Tag anderthalb Stunden lang durch die dampfenden, unbefestigten Stra&szlig;en von Kinshasa, die sich in der Regenzeit in ein einziges Schlammmeer verwandeln. Die 34Jahre alte Kongolesin ist eine sch&ouml;ne Frau, die gerne n&auml;ht, aber zu Hause keine N&auml;hmaschine hat, und auch sonst keine M&ouml;glichkeit, Geld zu verdienen. Sie wohnt mit ihren zwei kleinen Kindern in einem winzigen, stickigen Wellblechverschlag in einem der Parzellenviertel, die wohl einst bessere Tage gesehen haben, heute aber v&ouml;llig heruntergekommen sind. Die Wuchermiete daf&uuml;r von umgerechnet 50Dollar hat sie schon seit einem Vierteljahr nicht mehr bezahlt. Bald wird sie mit ihren Kindern auf der Stra&szlig;e stehen, f&uuml;rchtet sie.Nathalie hat ihr Instrument, die Fl&ouml;te, nie richtig erlernt. Sie spielt es trotzdem. &quot;Ich mache es nicht aus Spa&szlig;&quot;, sagt sie. &quot;Die Musik ist Gottesdienst f&uuml;r uns.&quot; Nathalies t&auml;glicher Ausflug zu Beethoven und Bizet ist f&uuml;r sie eine Art Stippvisite im Paradies. Von Gott und ihrem Glauben reden auch die anderen Orchestermitglieder: Joseph, der Geiger, der in einer Garage immerhin einen kleinen Friseurladen er&ouml;ffnet hat; Josephine, die S&auml;ngerin, die zum W&auml;schewaschen fr&uuml;hmorgens an den Fluss geht; der Tenor Tresor Rumba, der von der M&ouml;glichkeit schw&auml;rmt, durch Musik von Orff und Dvor&szlig;k seinem Gott musikalisch zu huldigen.Denn hinter dem Musizieren steht f&uuml;r sie alle ein religi&ouml;ses Motiv: Ihr Dirigent Armband Diangienda ist der Enkel des 1951 verstorbenen Simon Kimbangu, der als Religionsstifter, Prophet und M&auml;rtyrer verehrt wird. Seine Anh&auml;nger sehen in Kimbango die Reinkarnation des Heiligen Geistes. Der Sohn gr&uuml;ndete das Orchester 1995. Zum Lob und Preis Gottes, weil im Gottesdienst der Kimbangisten, wie die Religionsgemeinschaft genannt wird, gerne H&auml;ndel gespielt wird. &quot;Endel&quot;, wie Armband sagt, wenn er vom Komponisten des &quot;Halleluja&quot; spricht.Drittst&auml;rkste Konfession im LandDie Kirche der Kimbagisten hat im Kongo f&uuml;nf bis acht Millionen Mitglieder und ist neben Protestantismus und Katholizismus die drittst&auml;rkste Konfession im Land. Doch sie ist durch Erbzwist seit Jahren zerstritten. Im Grunde ist das Orchester der einzig intakte Zweig der Gemeinschaft. Die Mitglieder des Orchesters n&auml;hern sich ihrem Dirigenten vorzugsweise auf Knien. Armband teilt Neuank&ouml;mmlingen Instrumente zu , je nachdem, was gerade gebraucht wird.Man k&ouml;nnte fragen, warum denn in Afrika Beethoven und Verdi aufgef&uuml;hrt werden m&uuml;ssen, w&auml;hrend die eigenen musikalischen Wurzeln verdorren. &quot;Beethoven ist f&uuml;r uns nur eine Durchgangsstation hin zu einer eigenen Musik&quot;, lautet die verbl&uuml;ffende Antwort Armbands. Der von ihm selbst komponierte Chor klingt dann auch wie eine afrikanische Version von Verdis Gefangenenchor aus &quot;Nabucco&quot;.im Kongo, dem riesigen, von Kriegsgr&auml;ueln, Aufst&auml;nden und Ausbeutung verw&uuml;steten Land, regiert nach wie vor die Korruption. Dreist und offen gehen selbst am Flughafen die Kontrollkr&auml;fte Reisende um einen Bestechungsobolus an. Die Regierung von Joseph Kabila, 2006 demokratisch gew&auml;hlt, hat nicht verhindert, dass die Bodensch&auml;tze von Nachbarl&auml;ndern gepl&uuml;ndert werden. Die Regierung selbst kultiviert den Analphabetismus, indem sie ab der ersten Klasse Schulgeld verlangt. Ein Projekt wie das Symphonieorchester der Kimbangisten, immerhin kostenlos, hat im Kongo soziale Vorbildfunktion und Ausnahmerang. F&uuml;r die Musiker - die meisten von ihnen jung, arbeits- und perspektivlos - ist es Urlaub von einer ruinierten Gegenwart. Es repr&auml;sentiert eine bessere Welt inmitten einer von den Menschen selbsterschaffenen H&ouml;lle. &quot;Freude, sch&ouml;ner G&ouml;tterfunken&quot;, singen sie aus vollem Hals.An diesem Donnerstag kommt der Film &quot;Kinshasa Symphonie&quot;, der auf der diesj&auml;hrigen Berlinale uraufgef&uuml;hrt wurde, in die deutschen Kinos. Er erz&auml;hlt die Geschichte des Orchesters. Den Musikern, denen der Film in Kinshasa vorgef&uuml;hrt wurde, ging die raue Wiedergabe ihrer Wirklichkeit fast zu weit: &quot;Ist es denn n&ouml;tig, dass die Welt sieht, wie wir leben?&quot;, fragten einige. Vielleicht nicht. Aber zu h&ouml;ren, wie sich 200 Musiker t&auml;glich am Klassik-Schopf aus dem Sumpf ihrer Verh&auml;ltnisse ziehen, ist pure Freude. Sie machen den wohl sch&ouml;nsten und zugleich schr&auml;gsten L&auml;rm, der jemals mit Beethoven in Zusammenhang gebracht wurde.------------------------------Karte: KongoFoto: Das Orchestre Symphonique Kimbangiste bei einem der seltenen Auftritte

Kai Luehrs-Kaiser

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Beethoven auf dem Parkplatz