Ein Aufstieg auf den Vesuv bietet einen fantastischen Ausblick – wenn der Vulkan nicht gerade von Wolken verhüllt ist. Man sieht weit über den glitzernden Golf von Neapel, über die lange Landspitze von Sorrent bis zur Insel Capri. Rechts breitet sich Neapel aus. Und dahinter, beim Ort Pozzuoli, liegt eine seltsame Landschaft, die sogenannten Phlegräischen Felder.
Wenn man sie überfliegt, sieht man ein Gebiet voller bewachsener Krater und Schlackenkegel, größere und kleinere. Sie sind Reste früherer Vulkanausbrüche. So wie auch ein kreisförmiger See, der Lago d’Averno, in dem die alten Römer einst den Eingang in die Unterwelt vermuteten. Das Gebiet ist dicht bebaut. Die Siedlungen der Küstenstadt Pozzuoli ziehen sich an den Hängen hoch. Sogar in den abgeflachten alten Kratern selbst finden sich Häuser und Straßen. Es wirkt, als sei hier alles ruhig und sicher – für die Ewigkeit.
Doch es brodelt unter den Füßen der Bewohner. Das zeigen Thermalquellen, die schon bei den alten Römern beliebt waren, und sogenannte Fumarolen, vulkanische Dampfaustrittsstellen. Echt vulkanisch zeigt sich der Solfatara-Krater, nicht weit von der Küste. Der Krater mit etwa 770 Metern Durchmesser entstand ebenfalls bei einem Ausbruch. Man sieht weißes, graues und gelb-oranges Vulkangestein und blubbernde Schlammtümpel. Es stinkt nach Schwefel.

Die aus dem Boden zischenden sogenannten Solfataren sind bis zu 250 Grad Celsius heiß. Sie bestehen aus Schwefelwasserstoff, Kohlenstoffdioxid und Wasserdampf. Und wenn man nicht aufpasst, kann man hier ums Leben kommen. So geschah es erst 2017 einem elfjährigen Jungen, der über eine Absperrung gestiegen war. Seine Eltern, die ihn retten wollten, starben ebenfalls. Sie sollen in eine anderthalb Meter tiefe vulkanische Grube gefallen und dort erstickt sein.
Doch die Gefahren sind noch viel größer, wie aktuelle Berichte zeigen. Unter der Region liegt eine riesige Magmakammer in vielen Kilometern Tiefe. Sie speist auch den etwa 20 Kilometer entfernten Vesuv. Der sogenannte Supervulkan der Phlegräischen Felder soll nicht nur das Leben von etwa drei Millionen Menschen bedrohen, die in Pozzuoli und dem angrenzenden Neapel wohnen. Ein größerer Ausbruch könnte durch gewaltige Ausstöße von Asche und Rauch auch weitreichende Konsequenzen für weite Teile Europas haben.
Erdkruste in der Nähe von Neapel könnte aufbrechen
Forscher äußern seit einigen Jahren Sorge, dass ein Ausbruch bevorstehen könnte. Genährt wird die Sorge durch eine aktuelle Studie, veröffentlicht von Wissenschaftlern des University Colleges London (UCL) und des italienischen Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie (INGV) in der Fachzeitschrift Nature Communications Earth & Environment. Nach der letzten Eruption vor fast 500 Jahren sehen die Wissenschaftler einen bevorstehenden Ausbruch als „realistische Möglichkeit“ an.
„Vulkane, die nach langer Ruhe wieder erwachen, müssen die Kruste aufbrechen, bevor Magma austreten kann“, erklären sie in ihrer Studie. Sie untersuchten die Muster der Bodenbewegungen und Erdbeben anhand eines am UCL entwickelten Vulkanfrakturen-Modells. Und sie stellten fest: Die Phlegräischen Felder befänden sich im Übergang von einer „elastischen“ zu einer „unelastischen“ Phase.
Zehntausende kleinere Erdbeben in den letzten gut 70 Jahren
Seit 1950 sei der Vulkan unruhig, schreiben sie. In dieser Zeit hätten sich Zehntausende kleinere Erdbeben ereignet. Allein im Mai dieses Jahres habe man 661 Erdbeben gemessen. Auch wenn diese meist schwach sind, tragen sie den Forschern zufolge zur Instabilität der Erdkruste bei. Es habe vier Episoden von Bodenanhebungen gegeben.
Insgesamt habe sich der Boden um den Küstenort Pozzuoli um mehr als vier Meter angehoben. Die aktuelle Zugfestigkeit der Phlegräischen Felder liege den Forschern zufolge nur noch bei einem Drittel der von 1984. Gemeint ist damit die maximale Belastung, die ein Material aushalten kann, bevor es beim Dehnen bricht.
Doch was ist überhaupt ein Supervulkan? Gemeint sind Vulkane, die aufgrund der Größe ihrer Magmakammer tief unter der Erde das Potenzial für gigantische Ausbrüche haben. Um ihre Stärke zu erfassen, gibt es den sogenannten Vulkanexplosivitätsindex (VEI) mit acht Stufen. Eruptionen der Stärke 8 sind absolut selten.
Vor etwa 74.000 Jahren soll der Ausbruch des Toba auf Sumatra große Teile der Menschheit vernichtet haben. Bekannt ist auch der Yellowstone-Vulkan unter dem gleichnamigen Nationalpark in den USA. Dessen letzter Ausbruch liegt 640.000 Jahre zurück. Er hinterließ eine sogenannte Caldera – eine riesige kesselförmige Struktur – von 80 Kilometern Länge und 55 Kilometern Breite. Gemessen an diesen Ausmaßen sind die Phlegräischen Felder aus Sicht von Vulkanologen noch kein Supervulkan.
Fast 88 Mal so viel vulkanisches Material wie beim Ausbruch des Vesuvs
Die Caldera Campi Flegrei, so die italienische Bezeichnung, entstand vor etwa 39.000 Jahren bei einem Ausbruch der VEI-Stärke 7. Die Eruptionssäule soll bis zu 40 Kilometer hoch gewesen sein, gefolgt von pyroklastischen Strömen. Etwa 350 Kubikkilometer vulkanischen Materials (Tephra) wurden damals in die Atmosphäre geschleudert – fast 88 Mal so viel wie beim Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79, der Pompeji und Herculaneum vernichtete.
Es war die größte Vulkaneruption der letzten 100.000 Jahre in Europa. Sie soll das Klima weltweit beeinflusst haben. Vor 15.000 Jahren folgte ein weiterer großer Ausbruch und danach kleinere Eruptionen innerhalb der Caldera, bis in die jüngere Zeit hinein.
So entstand die Form der Phlegräischen Felder, mit großer Caldera und den Spuren späterer kleinerer Ausbrüche. Der Durchmesser der Felder beträgt bis zu 15 Kilometer. Sie umfassen ein Gebiet von etwa 150 Quadratkilometern. Ihr Name kommt aus dem altgriechischen Wort für „brennen“.
Die Caldera Campi Flegrei gehört zu den beliebtesten Orten der Geschichte
Die „brennenden Felder“ beginnen am westlichen Stadtrand von Neapel und liegen teilweise auf dem Meeresgrund vor der Stadt Pozzuoli. Diese war bereits in der Antike für ihre Thermalquellen und die Puzzolanerde bekannt, die für die Herstellung von römischem Beton und Keramiken genutzt wurde.
Trotz – oder gerade wegen – ihrer vulkanischen Geschichte gehörte die Gegend zu den beliebtesten der Antike. Hier gründeten Griechen einst einen Hafen. Hier entstand später der wichtigste Hafen Roms, der irgendwann von Ostia abgelöst wurde. In der Nähe der Heilbäder siedelten sich viele reiche Römer an. Heute leben in dem ganzen Gebiet etwa 360.000 Menschen.
Der Vulkan unter ihnen brach zum letzten Mal 1538 aus – nach einer Pause von etwa 3000 Jahren. Damals entstand der 133 Meter hohe Vulkankegel Monte Nuovo, dessen Hänge heute teilweise bebaut sind. Eine solche Eruption heute würde wohl die Stadt Pozzuoli unbewohnbar machen.
Dass sie auf einem Pulverfass sitzen, nehmen die Bewohner achselzuckend zur Kenntnis. Sie leben damit. Sollten sich Hinweise auf einen bevorstehenden Ausbruch verdichten, würden Evakuierungspläne in Kraft treten. Allein aus den Orten der sogenannten roten Zone müssten dann 80.000 Menschen evakuiert werden.
Die Phlegräischen Felder durchlaufen bestimmte Zyklen
Doch wie groß ist die Gefahr wirklich? Ist tatsächlich ein Ausbruch wie vor 39.000 Jahren zu erwarten? Er wäre verheerend für Europa, würde die Heimat von Millionen Menschen zerstören und auch in Deutschland für einen Aschefallout sorgen. Nicht nur der Flugverkehr käme zum erliegen. Möglicherweise gäbe es auch einen vulkanischen Winter mit Missernten.
„Eine katastrophale Eruption ist kaum in den nächsten 20.000 Jahren zu erwarten, denn das Magmareservoir unter den Phlegräischen Feldern lädt sich nur sehr langsam auf“, sagte vor einiger Zeit die Vulkanologin Francesca Forni, damals Forscherin an der ETH Zürich, die in einer Studie beschrieben hatte, dass die Phlegräischen Felder bestimmte Zyklen durchlaufen. „Einen großen Ausbruch werden wir und künftige Generationen, vielleicht auch die gesamte Menschheit, nicht mehr erleben.“
Aber kleinere Ausbrüche sind durchaus möglich, wie die neueste Studie des University Colleges London (UCL) und des italienischen Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie (INGV) zeigt. Immer mehr kleine Erdbeben deuteten auf Druck von unten hin, sagt der britische Vulkanologe Christopher Kilburn, Professor am UCL und Hauptautor der neuen Studie.
Derzeit soll es keine Anzeichen für aufsteigendes Magma geben
Die Bodenanhebungen und Erdbeben hätten die Struktur der Erdkruste der Felder verändert. Ein Bruch könne einen Riss in der Kruste öffnen, „aber das Magma muss immer noch an der richtigen Stelle nach oben drücken, damit es zu einem Ausbruch kommt“, sagt Kilburn.
„Derzeit haben wir keine Anzeichen für aufsteigendes Magma“, sagte Mauro di Vito, Leiter des Vesuv-Observatoriums (Osservatorio Vesuviano) in Neapel. Die Vulkanologen beobachten die Aktivitäten in der Region, indem sie permanent die Gasemissionen (Temperatur und Zusammensetzung) messen und die Erdbeben analysieren. Per Satellit werden die Erdkrustenbewegungen registriert. Bereits 2012 wurde die Farbe im vierstufigen Vulkan-Alarmsystem auf Gelb gestellt: erhöhte Wachsamkeit.
Es gibt eine weitere Studie. Dieser zufolge herrscht zurzeit eine ähnliche Situation wie vor dem letzten Ausbruch im Jahre 1538, der den Monte Nuovo schuf. Damals ging der Eruption eine starke Anhebung des Bodens voraus. Sie betraf zunächst das Gebiet von Pozzuoli, später dann den Bereich des zukünftigen Eruptionsschlots, wo sie eine Höhe von etwa 20 Metern erreichte.
Nach dem Ausbruch kam es dann zu einem Wechsel von Senkungen und Anhebungen. Das ist das Ergebnis von Modellierungen eines Teams um Elisa Trasatti vom Nationalen Institut für Geophysik und Vulkanologie. Die Studie ist im Fachjournal Geophysical Research Letters erschienen.
Mitunter kommt es auch zu „abgebrochenen Eruptionen“
Die Forscher rekonstruierten auch die Magmaströme jener Zeit. Sie schätzten, „dass die 1538 ausgebrochene Magmamenge nur etwa ein Hundertstel der Menge beträgt, die sich zwischen 1250 und 1650 unter dem Vulkan angesammelt hat“, wie Valerio Acocella von der Università Roma Tre, einer der Studienautoren, sagt. „Dies verdeutlicht die starke Fähigkeit des phlegräischen Systems, das Magma zurückzuhalten und nur einen minimalen Teil ausbrechen zu lassen.“ Mitunter kommt es den Forschern zufolge auch zu „abgebrochenen Eruptionen“, wenn es das Magma nicht bis nach oben schafft.
„Wir können noch nicht sicher sagen, was passieren wird. Der wichtige Punkt ist, auf alle Ergebnisse vorbereitet zu sein“, sagte der Vulkanologe Stefano Carlino vom Vesuv-Observatorium. Bereits in den 1980er-Jahren hatte sich der Boden an der Küste um mehr als zwei Meter angehoben. Die Fischer konnten plötzlich nicht mehr mit ihren Booten am Hafen anlegen. Zehntausende Menschen aus Pozzuoli wurden evakuiert, weil ein Ausbruch unmittelbar bevorzustehen schien. Aber es kam nicht dazu.
Dass die Caldera der Phlegräischen Felder bestimmte Zyklen durchläuft, ist seit einiger Zeit bekannt. 2018 beschrieben Forscher um Francesca Forni und Olivier Bachmann von der ETH Zürich, dass sich über Tausende von Jahren Magma aus der Tiefe der Erde in einem großen Reservoir in der Erdkruste ansammle. Es gebe lange Ruhephasen und kleinere Ausbrüche. Bis es dann wieder zu einer Megaeruption komme, bei der sich das Reservoir schlagartig leere, die Decke einstürze und eine neue Caldera entstehe.








