Anschlag in Hanau 2020

Zwei Jahre nach Hanau: Nicht nur erinnern, sondern handeln!

Der Anschlag von Hanau jährt sich zum zweiten Mal. Statt stiller Erinnerung braucht es wirksame Veränderung, sagen unsere Autorinnen und Autoren. Sieben Stimmen

Wir haben Autorinnen gefragt, wie das Hanau-Gedenken heute aussehen sollte. Acht Versuche
Wir haben Autorinnen gefragt, wie das Hanau-Gedenken heute aussehen sollte. Acht VersucheAlin Bosnoyan

Die Anschläge von Hanau liegen erst kurz zurück. Vor zwei Jahren, am 19. Februar 2020, erschoss Tobias R. bei einem Mordanschlag aus rassistischen Motiven gezielt neun Menschen. Die Getöteten waren zwischen 21 und 44 Jahre alt.

Ende 2021 teilte die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe mit, dass das Ermittlungsverfahren zu Hanau eingestellt werde. Der Ausschuss des Hessischen Landtags, der untersucht, ob es vor oder nach der Tat zu einem Behördenversagen gekommen ist, läuft indes weiter. Die Angehörigen der Opfer, die sich in der „Initiative 19. Februar Hanau“ zusammenschlossen, fordern Aufklärung und Konsequenzen aus dem Anschlag – auch im behördlichen Umgang mit rassistischer Gewalt.

Ein Gutachten, das das Recherchekollektiv Forensic Architecture im Auftrag der Initiative 19. Februar erstellte und Ende 2021 veröffentlichte, untersucht, ob die Personen in der Arena Bar genug Zeit gehabt hätten, vor dem Täter zu flüchten, wären sie zum Notausgang gelaufen und wäre dieser unverschlossen gewesen. Die Untersuchung kommt zu dem Schluss: Alle fünf Personen in der Arena Bar hätten den Anschlag überleben können. Dass der Notausgang in der Tatnacht abgeschlossen war, sei keine Ausnahme gewesen. Polizeibeamte hätten das Verschließen des Notausgangs angeordnet, um bei Razzien eine mögliche Flucht von Besuchern zu verhindern.

Seit dem Anschlag wird regelmäßig der Opfer gedacht, etwa im Rahmen offiziöser Gedenkfeiern wie kürzlich im Bundestag. „Wir, der Bund und das Land Hessen, haben die Pflicht, aufzuklären“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) diese Woche. Nur durch Aufklärung könne „das tief verletzte Vertrauen in unseren Staat wieder wachsen“; bei den Angehörigen sowie bei anderen, die immer wieder rassistischen Angriffen ausgesetzt seien.

Im Gedenken: an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Auch inoffiziell wird regelmäßig des Anschlags gedacht, etwa auf sozialen Medien. Die Anschläge von Hanau sind somit auch zu einem Marker für die Realität und Kontinuität rassistischer Gewalt in Deutschland sowie für das Wegsehen des Staates und der Behörden geworden. Immer wieder fallen im offiziellen sowie im inoffiziellen Gedenken Sätze wie „Wir sind alle Hanau“. Aber sind „wir“ wirklich „alle“ Hanau? Entlarvt ein Gedenken, das die ethnischen und materiellen Differenzen des Gedenkenden zum Gedachten übergeht, sich letztlich nicht selbst? Wo endet Empathie, und wo beginnt Vereinnahmung – und letztlich auch Verharmlosung?

Wie kann ein Gedenken aussehen, das der Gefahr entgeht, die Opfer des Anschlags für eine kollektive Erzählung zu instrumentalisieren – und dennoch dem rassistischen Alltag in Deutschland Rechnung trägt? Wir haben Menschen aus der Kultur befragt, deren Ideen richtungsweisend sein können. Hanno Hauenstein

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Die Narben der Vergangenheit

Als uns am 29. Mai 1993 die Nachricht vom tödlichen Brandanschlag in Solingen erreichte, waren wir gerade zu Besuch bei meiner Familie in der Türkei. Inmitten des familiären Schweigens über die Shoa, das sich wie ein Geist bei uns zu Hause breit gemacht hatte, wuchs ich auf – im Land der Täter. Nach Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Hoyerswerda und nun auch den Nazi-Morden in Solingen überlegte mein Vater, ob es für uns nicht eigentlich sicherer wäre, Deutschland zu verlassen. In meinen „Nazi-Träumen“, wie ich sie nenne, rieben sich nachts die Narben der Vergangenheit auf. Auch dann, wenn ich im Spiegel meine dunklen Augen und schwarzen Locken betrachtete. Kennen Sie diese Angst?

Julia Yael Alfandari
Julia Yael AlfandariAlin Bosnoyan

Als Hanau passierte, rief mein Vater mich an: „Wieder ein Nazi-Anschlag auf junge Menschen. Sei vorsichtig.“ Ich hatte nur wenige Monate zuvor einen ähnlichen Anruf erhalten. Damals kam ich gerade aus der Synagoge. Ein Nazi-Terroranschlag, ausgeübt auf eine Synagoge und einen Dönerladen in Halle. Jetzt war es schon wieder da. Dieses erschlagende Gefühl der Ohnmacht.

Die rassistischen Morde von Hanau waren kein „Angriff auf uns alle“, wie gern behauptet wird. Im Gegenteil. Diese strukturelle Entkopplung des Angriffs ist ein weiterer Gewaltakt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Opfer zu Tätern verkannt oder instrumentalisiert werden, in der Sicherheitsapparate rassistisches Wissen abrufen, in der Rechtsextreme sich rasant auf den Straßen und in den Institutionen mobilisieren. Überhaupt: In einer Gesellschaft, die historische Meisterin im Abstrahieren ist, im Wegschauen und im Schweigen – vom Familientisch bis hin zum öffentlichen Nahverkehr.

Bloß kein Kontra geben, so denken in Deutschland viele, da eh nichts zu machen sei. „Nicht so gebildet“, heißt es dann schnell über den Schwager oder pöbelnde Erwachsene in der Bahn. „Ich kenne diese Frau mit Kopftuch oder die mit dunklen Augen doch gar nicht.“ Ein weiterer Klassiker unter den Abstrahierungsmeister:innen: „Sie müssen verstehen, die Sache mit den Juden und den Ausländern ist eben komplex.“

Den antifaschistischen Wohlfühleffekt gönnt man sich dagegen lieber auf Knopfdruck: Ein Like, ein Share oder ein Sticker gegen Rechts, besonders gern an Gedenktagen. Durch das Überleben meiner Großeltern lernte ich früh, dass ich ein derartiges banales Scheuklappen-Wissen nicht abrufen kann. Während die meisten Deutschen nichts gewusst haben wollen oder einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit ziehen möchten, plagten sich meine Großeltern und die Menschen um sie herum durch ihr Leben – zerrissen von dem unerbittlichen Schuldgefühl, überlebt zu haben.

Für Betroffene von Rassismus und/oder Antisemitismus gehört Erinnern eben nicht zum guten Ton. Es ist zugleich eine nicht aushaltbare Qual und ein Prozess der Ermächtigung. Aus der Trauer schöpfen wir Widerständigkeit und Empathie. Es ist unsere Stärke gegen rechte Kontinuität und ermöglicht ein Denken in Bündnissen. Die Initiative 19. Februar aus Hanau fordert zum Hinsehen und zum Handeln auf: Erinnern bedeutet keinen jährlichen Blumenstrauß, sondern strukturelle Veränderung und eine gerechte Aufklärung. Ihren Forderungen zuzuhören und sie umzusetzen ist nicht nur unsere historische Verantwortung, sondern auch unsere demokratische Pflicht.

Schmerz ist immer auch politisch. Unser Erinnern – das kulturelle Erbe von Gewalt und Trauma – ist partikular. Und dennoch sind unsere Narben verwoben. Heute schmerzen sie besonders.

Julia Y. Alfandari, geb. 1984, ist Bildungsreferent:in und Dozent:in an der UdK, Berlin.

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Ein Moment der Schwere

Seit 2011 schwingt für mich beim Betreten jedes Dönerladens, jedes Kiosks, jedes irgendwie migrantisierten Einzelhandels, immer ein kurzer Moment der Schwere mit. Der Moment ist kaum wahrnehmbar, verschwindet zwischen Eingangstür und Begrüßung. Seit 2020 hat dieser kurze Moment eine neue Dimension bekommen, weitere Gesichter, weitere Namen, sie begleiten jede Paketabholung und jedes belanglose Gespräch. Als würde ich mir sagen: Orte wie diese, du warst zwar nicht dabei, du warst aber gemeint, hab wenigstens den Anstand – erinnere dich.

Nach dem 19. Februar 2020 haben Politiker:innen brav alles das gemacht, was die Höflichkeit von ihnen verlangt. Sie wissen, dass Helmut Kohls Rede vom „Beileidstourismus“ nicht mehr salonfähig ist und dass Menschen wie wir an zu vielen öffentlichen Stellen sitzen und sie genau beobachten.

Shida Bazyar
Shida BazyarAlin Bosnoyan

Dem Protokoll gemäß haben Politiker:innen also Betroffenheit signalisiert und von einer Zäsur gesprochen. Ich frage mich: Wenn Hanau eine Zäsur war, was war dann Halle? Was war Mölln, was Solingen? Was waren Nürnberg, München, Hamburg, Rostock, Dortmund, Kassel, Heilbronn, Köln, was war Dessau? Wie viele Zäsuren braucht es noch, bis man einsieht, dass man sich in einem Zustand befindet? Ich korrigiere: Bis niemand mehr leugnet, dass man sich in einem Zustand befindet? Dabei hätten Politiker:innen die wunderschöne Macht gehabt, selbst für Zäsuren zu sorgen.

Eine Zäsur, das wäre gewesen, wenn Angela Merkel endlich zugegeben hätte, an der „lückenlosen Aufklärung“ des NSU gescheitert zu sein und darum erst recht dafür gesorgt hätte, dass Hanau zum letzten rechtsterroristischen Anschlag wird. Eine Zäsur wäre gewesen, wenn Innenminister Beuth nach all den Skandalen in hessischen Polizeistrukturen endlich zurücktreten würde.

Eine Zäsur, das wäre, wenn die Angehörigen nicht ab der Sekunde des Terroranschlages Demütigungen über Demütigungen von institutionellen Seiten erhalten hätten. Ich übertreibe nicht: Demütigungen über Demütigungen. Nahezu alles, was von behördlicher Seite nach den Morden passierte, ist allein schon als Außenstehende kaum auszuhalten. Ist das wirklich so schwer, sensibel mit Angehörigen umzugehen? Ist das der desaströse Stand deutscher Behörden? Oder ist deren Rassismus tatsächlich so tiefgehend, dass sie ganz einfach nicht ahnten, dass sie es hier mit Menschen zu tun haben? Menschen, die sich von ihren geliebten Menschen verabschieden möchten, bevor man sie obduziert?

Eine Zäsur, das wäre, wenn man sich endlich bei den Angehörigen für dieses katastrophale und unmenschliche Missmanagement entschuldigen würde.

Die einzige Zäsur, die ich sehe, ist das unüberhörbare Wirken der Initiative 19. Februar. Das ist das, was wir uns als Gesellschaft attestieren dürfen: Die Eigeninitiative nach Terroranschlägen hat sich regelrecht perfektioniert. Kann man sich eine traurigere Form des Fortschritts vorstellen? Rassifizierte Menschen professionalisieren ihren Widerstand – während staatliche Seiten mit beeindruckender Ausdauer versagen.

Shida Bazyar, geb. 1988, ist Schriftstellerin. Ihr Debütroman „Nachts ist es leise in Teheran“ wurde mehrfach ausgezeichnet.

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Erinnerung muss laut sein

Wir haben Erinnerung als etwas Leises gelernt, als Rückzug. Stilles Gedenken, gefaltete Hände, sakrale Hallen, von deren Wänden ein Räuspern zurückgeworfen wird, und Schweigen, und Routine. Bekannte Abläufe können tröstlich sein, wir können uns in sie hineinlegen, wenn wir müde sind. Die Zeit teilt sich in ein Davor und ein Danach. Wir gehen in uns und suchen Vorher-Nachher-Bilder, wir kreisen ihre Mitte ein. Jemand sagt: „Mach eine Minute die Augen zu.“ Oder: „Hab immer alle Augen offen, vergiss dabei bloß das rechte nicht.“ Dann befolgen wir Anweisungen. Oft legen Hände in Lederhandschuhen Kränze nieder. Knie spüren durch den Stoff einer Anzughose die Unebenheiten deutscher Pflastersteine.

Lin Hierse
Lin HierseAlin Bosnoyan

Wir haben Erinnerung als etwas Leises gelernt, aber Erinnerung muss auch laut sein. Sie muss zuhören, wachsen und nicht warten, dass nach ihr gefragt wird. Sie darf alte Gewohnheiten abstreifen. Und sie muss all die Dinge miteinander verbinden, die miteinander verbunden sind: Lichtenhagen, Solingen, NSU, Hanau. Dinge, die in alle Richtungen ausfasern: Gedanken, Kommentare, Drohungen, Schläge, Feuer, Schüsse. Im Internet, auf der Straße, in Schulen, in Behörden, in Büros und Gartenlauben und in Wohnzimmern. Sie darf sich nicht denen ergeben, die aktiv am kollektiven Vergessen arbeiten.

Serpil Temiz Unvar sagt, die Geschichte von Ferhat – die Geschichte ihres ermordeten Sohnes – gehört zu jedem. Und auch, dass sie sich für das Kämpfen und gegen den Hass entschieden hat. Serpil Temiz Unvar hat eine Bildungsinitiative gegründet, um Rassismus etwas entgegenzusetzen. Sie sagt Sätze, die bleiben, und sie geht darüber hinaus. Sie kommt vom Sprechen ins Handeln, vom Schmerz in die Wut, von der Wut in die Hoffnung, und wieder zurück. Wahrscheinlich liegt dazwischen noch viel mehr, für das es niemals Wörter geben wird. Das alles ist Erinnerung.

Was also, wenn wir Erinnerung als eine solche ständige Vielheit lernen? Als Boden, auf dem kein Gras wachsen kann – aber immer Veränderung.

Lin Hierse, geb. 1990, ist Journalistin und Schriftstellerin. Ihr Debütroman „Wovon wir träumen“ erscheint am 10. März im Piper Verlag.

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Körper als wanderndes Denkmal

Ich bin auf dem Weg zu meinen Eltern. Es ist der ICE 793, Abfahrt Berlin, Umstieg in Hanau. Meist genügt ein kurzer Blick auf die Bahnhofstafel, dann geht es weiter. Seit zwei Jahren ist das anders. Fünf weiße, schmale Schriftzeichen auf dunkelblauem Hintergrund. Das Schild am Bahnsteig lässt mich nicht gehen. Ich pflanze meine Füße in die Pflastersteine, die Zehen in den Kieselboden. Und frage mich: Was ist, wenn das Gedenken leise im Fundament verharrt?

Ozan Zakariya Keskinkılıç
Ozan Zakariya KeskinkılıçAlin Bosnoyan

In den ersten Wochen und Monaten nach dem Anschlag sah ich die Namen und Gesichter der Ermordeten auf Plakaten an mir vorbeiziehen. Auf dem Weg zur Arbeit, zum Supermarkt, zur U-Bahn. An Bäumen, an Hauswänden, an Straßenlaternen. Ich konnte an einer Hand abzählen, wie viele Tage das dünne Papier anderen Händen standhielt. An- und weggerissen, überklebt und beschmiert, mit unwürdigen Parolen. Das war mehr als Vandalismus – das hatte System. Der Angriff endet nicht mit dem Tod, er will den Opfern ihre Geschichte nehmen. Und den Hinterbliebenen die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Auch daran denke ich: Familien am Grab ihrer Liebsten.

Ich bin auf dem Weg zu meinen Eltern. ICE 793, Abfahrt Berlin, Umstieg in Hanau. Der Besuch wird das Kindsein wie eine Decke ausbreiten. Baba und Anne haben recht. Nichts fühlt sich so an, wie dem Kind nachts beim Schlafen zuzusehen, diese Liebe und die Angst um sie. Das Bebende, das Existenzielle, der Atem im Körper eines anderen.

Ich muss das Gewicht der Worte verlagern, auf das linke Bein, auf das rechte Bein. Ich muss in Nähe und Distanz dazu gehen, in Distanz und in Nähe. Die Beziehung zu diesem Ort und zu den Menschen definieren. Ich ernte meine Zehen aus dem Kieselboden, die Füße aus den Pflastersteinen. Und ich frage mich: Was, wenn die wandernden Körper zum Denkmal werden? Wie viele Hände braucht es, um sie zu überkleben?

Ozan Zakariya Keskinkılıç, geb. 1989, ist Politikwissenschaftler, freier Autor und Lyriker. 2021 erschien sein Sachbuch „Muslimaniac“ im Körber Verlag.

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Hanau übersetzen lernen

Mit jedem Text muss Hanau neu übersetzt werden. Die Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2020 in Hanau – die Nacht, in der neun Menschen von einem Rechtsterroristen in aller Ruhe ermordet wurden – muss übersetzt werden.

Hanau ist die Wiederholung rechtsterroristischer Verbrechen der Vergangenheit, Hanau steht somit auch in der Tradition der noch weitgehend unaufgeklärten Verbrechen des NSU.

Karosh Taha
Karosh TahaAlin Bosnoyan

Die Ermordung der Menschen mit bestimmten physischen Merkmalen wie etwa braunen Augen, schwarzen Haaren und dunkler Haut ist die Realisierung des faschistischen Traums nach Uniformierung einer Gesellschaft: Das fängt damit an, das Fremdsein in der Welt als etwas Bedrohliches zu empfinden. Gleichförmigkeit – nicht Gleichwertigkeit – wird darin angestrebt: in Gedanken, in der Sprache, im Verhalten, im Aussehen. Es geht darum, die Monotonie und Homogenität einer Gesellschaft zu zelebrieren.

Die politische Forderung nach Anpassung in den letzten Jahrzehnten entspringt immer dem rechten Streben nach Homogenität – nicht dem nach Frieden.

Man könnte sich vorstellen: Diese Gesellschaft akzeptiert die Idee des Philosophen Emmanuel Levinas, das Fremde als Ordnungskonstante einer Gesellschaft anzusehen. Sprich, jeden Menschen als fremd und gerade deswegen als Teil der Gesellschaft zu respektieren, das Fremdsein als die natürliche Grenzlinie zu begreifen, durch die Menschenwürde bestimmt wird.

Man könnte von einer Menschenjagd sprechen, wenn man die Route und die Ruhe des Attentäters von Hanau bedenkt.

Man könnte von tödlicher Fahrlässigkeit der Polizei sprechen, wenn man bedenkt, dass der Notausgang der Arena Bar versperrt war.

Man könnte von Verachtung gegenüber dem Schmerz der Familienangehörigen sprechen, die daran gehindert wurden, sich von ihren Toten zu verabschieden.

Man könnte von der Würde- und Skrupellosigkeit der Gerichtsmediziner sprechen, den Angehörigen Fotos der obduzierten Leichen zu schicken. Oder das Gewicht des rechten und des linken Lungenflügels anzugeben.

Man könnte von der Begrenzung eines Textes sprechen, der versucht, eine Februarnacht in Deutschland zu übersetzen.

Karosh Taha, geb. 1987, ist Schriftstellerin. Ihr Roman „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ erschien 2019 im Dumont Verlag.

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Für ein ehrliches Gedenken

Nur eine Umkehrung der Bedingungen der Erinnerung führt zu einer Achtung der Ermordeten. Es handelt sich beim Anschlag von Hanau um politische Morde. Um Gewalt, die gegen Menschen aus marginalisierten Gruppen gerichtet war. Über die Bedingungen des offiziellen Gedenkens entscheiden aber letztlich nicht Marginalisierte, sondern die Regierung.

Zu diesem offiziellen Gedenken gehören auf kommunaler Ebene Veranstaltungen, Gedenktafeln, Straßenumbenennungen. Auf Bundesebene die Bestimmung von Gedenktagen, offiziöse Reden und so weiter. Das Gedenken verfolgt dabei oftmals mehr als nur einen Zweck. Wie beispielsweise eine Gedenkfeier aussehen soll und wen sie adressiert, orientiert sich am Wahlvolk oder sogar an der eigenen Wählerschaft.

Deniz Utlu
Deniz UtluAlin Bosnoyan

Marginalisierte Gruppen sind mitunter nicht Teil jenes Wahlvolkes. Und selbst wenn, ist ihre Stimme meist nicht ausschlaggebend, sondern eben marginal. Das ist eine Grenze der Demokratie, an der sie umschlagen kann – ins Totalitäre. Es ist diejenige Grenze, an der eine kulturelle Praxis notwendig wird, die die Stimmen derer hörbar macht, die betroffen sind. Ein demokratischer Prozess, der nicht zur Herrschaft einer Gruppe über die andere verkommen möchte, stellt sich hier über die Interessen der Mehrheit und fragt, was diejenigen brauchen, die überlebt haben – oder die Angehörige derer sind, die gestorben sind. Ihre Trauer, ihr Zorn bekommen Raum, ohne dabei einem anderen Zweck dienen zu wollen.

Das Ziel wäre nicht, aus der Situation zu lernen, sondern sich der Realität der Betroffenen zu stellen. Im Grunde bedingt das eine das andere. Es mutet schon seltsam an, zu behaupten, etwas gelernt zu haben, wenn es die Betroffenen sind, die auf Eigeninitiative unter hohem Aufwand aufdecken müssen, was in der Tatnacht und im Folgenden auf Seiten der Behörden zu Schutz- und Ermittlungslücken geführt haben könnte – etwa durch ein Gutachten zum Notausgang der Shisha-Bar. Auch berichtet die Initiative 19. Februar, dass Auskunftsersuche an verantwortliche Stellen bezüglich zugesagter Unterstützungszahlungen unbeantwortet blieben.

Wünschenswert wäre also eine kulturelle Praxis, die die Bedürfnisse der Angehörigen ins Politische übersetzt und somit ihre Last verringert. Das wäre der Boden – der im Augenblick fehlt – für ein ehrliches Gedenken.

Deniz Utlu, geb. 1983, ist Autor. Sein Roman „Gegen Morgen“ erschien 2019 im Suhrkamp Verlag.

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Der ultimative „Kanaken“-Moment

Die Opfer von Hanau hätten den Schutz des deutschen Staates verdient. Jenes Staates, der den Telefonhörer nicht abnahm, als man ihn um Hilfe rief und der seitdem ostentativ ihre Namen aussprechen lernt. Wenn ich an den 19. Februar denke, werde ich daran erinnert, dass ich weder Lagerist noch LKW-Fahrer, weder Rom noch Kurde bin. Ich werde der Tatsache gewahr, dass man lediglich Englisch beherrschen muss, um meinen Namen richtig auszusprechen. Und Englisch, das wurde auf meinem Gymnasium als Leistungskurs angeboten.

Julian Warner
Julian WarnerAlin Bosnoyan

Ich habe, wie viele andere Migrant:innen der zweiten Generation in Deutschland Geborener, den elterlichen Auftrag des sozialen Aufstiegs bereitwillig angenommen. Ich entfremdete mich von ihnen, ging an die Uni und baute mir eine Rüstung aus postkolonialer Theorie. Und als mein Vater starb, trat ich an die Kanzel und erklärte der Gemeinde, was er immer wusste, aber nie verbalisieren konnte: Wie sein ohnmächtiges Leben von der Dampfwalze der Geschichte erst geformt und dann zerbröselt worden ist.

Ich gehöre einer postmigrantischen Generation an, die verbunden ist durch einen einzigen Glaubenssatz: Nie wieder wollen wir ohnmächtig sein. Wir sitzen auf Podien und in Gremien und sprechen von Gleichheit, von Vielfalt, von Teilhabe. Wir repräsentieren und verkörpern eine wütende, aber auch warenförmige Form antirassistischer Kritik. Wenn ein Polizist uns krumm kommt, dann haben wir Worte und Diskurse. Und wenn uns etwas traumatisiert, dann gießen wir es in ein Kunstwerk. Wenn Leute sagen, „der Staat, das sind wir“, und wenn Angela Merkel es schafft, fehlerfrei die Namen der Opfer von Hanau aufzuzählen, dann schießen uns die Tränen in die Augen.

So identifiziert sind wir mit denjenigen, die uns peinigen. So subjektiviert sind wir mit dem Integrations- und Heimatdiskurs. Und weil das so ist, ist der Schrecken von Hanau trotz aller Unterschiede unser aller Schrecken, auch mein Schrecken. Weil der 19. Februar mich, genau wie der 22. Juli, daran erinnert, dass keine bürgerliche Empfindsamkeit, keine totale Assimilation, kein Gefühl von Zugehörigkeit mich und andere vor diesem Kanaken-Moment schützen wird.

Hanau war der ultimative Kanaken-Moment: Es läuft jemand durch die Straßen und schießt auf „Ausländer“. In den Augen der Rassisten sind wir nackt. Wir können uns nicht verstecken. Wir sind für alle zu erkennen, auch für die Polizei. Nach Hanau ist die Welt Angst geworden. Ich will kein Pessimist sein, aber was gilt sie in diesem Land, die Sicherheit der Anderen?

Julian Warner, geb. 1985, ist Kulturanthropologe und designierter künstlerischer Leiter des Brechtfestivals 2023.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.