Zwei Jahre sind seit dem rassistischen Anschlag in Hanau vergangen. Nicht genug Zeit, um die gewaltvolle Ermordung von neun Menschen zu verarbeiten. Aber doch ausreichend, um eine angemessene Aufarbeitung zu erwarten. Die treibende Kraft hinter Aufklärung und Erinnerung sind – wie bereits im Fall des NSU-Terrors – die Hinterbliebenen der Opfer. Durch ihren Einsatz in der „Initiative 19. Februar“ oder der „Bildungsstätte Ferhat Unvar“ leisten sie einen unschätzbaren gesellschaftlichen Beitrag, der weit über Hanau hinausgeht. Das darf nicht darüber hinwegsehen lassen, dass es in erster Linie die Aufgabe der Behörden, der Politik und der Öffentlichkeit ist, sowohl den Hergang der Tat als auch ihre Ursachen und Hintergründe aufzudecken.
So viele Fragen sind noch offen, so viele Schlüsse stehen noch aus: Weshalb war der Notruf nicht erreichbar, und waren die Notausgänge des Anschlagsorts verschlossen? Weshalb wurden Obduktionen ohne Einwilligung durchgeführt? Welche Rolle spielte der Vater des Täters? Und wie schützen die Behörden die Opferfamilien vor seinen Provokationen? Wie werden polizeiliche Einsätze künftig optimiert, damit Angegriffene vor Ort nicht wie im Falle von Etris Hashemi wie Verdächtige behandelt werden? Kaum auszudenken, wie ein Mensch, der die letzten Atemzüge seines Bruders noch im Ohr und eine stark blutende Schusswunde am Hals hat, sich fühlt, wenn seine Bitte um Hilfe mit der Frage nach seinem Ausweis beantwortet wird.
Welche Maßnahmen wird es geben, um rassistische Prägungen und rechtsradikale Strukturen in den Sicherheitsbehörden zu bekämpfen? Wie lässt sich in Zukunft verhindern, dass ein Mensch, der sich politisch radikalisiert, Waffen besitzen darf? Welche staatliche Hilfe können die Opferfamilien erwarten? Dies sind nur wenige der Fragen, die sich jetzt nicht nur Hinterbliebene stellen. An diesem Jahrestag tragen viele Menschen die von der „Initiative 19. Februar“ in Schlagworten formulierten Forderungen in die sozialen Medien und auf die Straße, auch in Berlin: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen.
Im Gedenken: an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
NSU & Halle: Was dem Anschlag von Hanau vorausging
Wer nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 glaubte, die brutale Mordserie müsse nun alles in diesem Land verändern, wurde nicht zuletzt durch Hanau dieser Gewissheit beraubt. Shida Bazyar benennt auf den Folgeseiten die Schichten des Grauens – die Ausschreitungen in Chemnitz im Herbst 2018, der Mord an Walter Lübcke im Sommer 2019, der antisemitische Anschlag in Halle im Herbst 2019, die Morddrohungen an politisch aktive Frauen durch den NSU 2.0 sowie das wiederholte Auftauchen rechtsradikaler Chatgruppen von Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden.
Wir sprechen hier nicht bloß über die letzten Jahre. Die Wunden und Ängste sitzen tief und prägen ganze Generationen. Millionen Menschen sind in dieses Land gekommen, weil ihnen als Gegenleistung für ihre Arbeitskraft ein komfortableres Leben in Aussicht gestellt wurde – oder weil sie Schutz suchten vor Krieg, Verfolgung, Terror und bitterer Armut. Ist ihnen diese Gesellschaft gerecht geworden? Ist sie sich selbst gerecht geworden?
Die Realitäten so vieler Menschen passen nicht zum Selbstbild der deutschen Mehrheitsgesellschaft – wobei Mehrheit hier mitnichten Zahlen meint, sondern Macht. Millionen in diesem Land Lebende sind von der Partizipation an demokratischen Prozessen ausgeschlossen, weil sie als fremd gelten und daher nicht die notwendigen Papiere und die damit verbundenen Rechte erhalten. Diese in großen Teilen willkürliche Tatsache hat einen immensen Einfluss darauf, wohin geschaut wird, was ernst genommen wird.
Ein kollektives Vergessen in Deutschland
Hierauf baut das kollektive Vergessen auf, das Lin Hierse benennt. Eine funktionierende Gemeinschaft kann nicht auf ein illusorisches Ideal hinarbeiten, das ohnehin tagtäglich verraten wird, weil es dieses Vergessen braucht. Besser wäre es, Marginalisierte arbeiteten selbst nicht daran mit, so lautet das Fazit Julian Warners. Wir müssen aufeinander schauen und umeinander wissen. Mit den Worten Karosh Tahas: Es wird Zeit, „jeden Menschen als fremd und deswegen Teil der Gesellschaft zu respektieren“.
Die rassistischen Vorfälle und Anschläge in diesem Land sind keine Einzelfälle, sie müssen im größeren Kontext gesehen und bekämpft werden. Sie wachsen durch ökonomische, soziale und repräsentative Ausschlüsse aus unserer Gesellschaft und wirken in sie hinein. Dies ist ein Problem, das nur gemeinsam gelöst werden kann, selbst wenn wir mitnichten alle auf die gleiche Art und Weise davon betroffen sind, wie auch Julia Alfandari unterstreicht. Diese Differenzen gilt es anzuerkennen, um aufrichtig erinnern und wirksam handeln zu können. Dabei ist es essenziell, die am meisten Bedrohten und Marginalisierten ins Zentrum zu rücken, argumentiert Deniz Utlu.
Ein respektvoller Umgang mit Opfern und Hinterbliebenen beinhaltet mehr, als am Jahrestag die Namen der Getöteten zu wiederholen und die Familien zu ihrem Leid zu befragen. Wer ihnen aufrichtig zuhört, weiß, dass sie mehr fordern als zur Schau gestellte Anteilnahme und Lippenbekenntnisse. Symbolische Akte sind wichtig, aber was, so fragt Ozan Zakariya Keskinkılıç, wenn das Gedenken im Fundament verharrt?
Im Januar sagte Serpil Temiz Unvar vor der neunten Sitzung des Untersuchungsausschusses zu Hanau: „Ihr Politiker redet ganz schön jetzt, aber es darf nicht bei Worten bleiben. Wir vergessen nicht, was ihr gesagt habt. Wir werden euch an alle Versprechen erinnern. Manche sagen, dass auch mal Schluss sein muss. Dass es nach zwei Jahren mit dem Thema Hanau reicht. So lange die Tatnacht nicht aufgeklärt ist, so lange nicht eingestanden wird, dass nach den Morden von der Polizei und der Staatsanwaltschaft Fehler begangen wurden, kann die Akte Hanau nicht geschlossen werden.“
Ich bin dankbar, dass die sieben Autoren und Autorinnen der folgenden Seiten der Einladung gefolgt sind und sich der Frage stellen, wie das Erinnern zwei Jahre nach dem Anschlag möglich ist. Sie blicken aus unterschiedlichen Richtungen auf unsere Gesellschaft, bringen andere Perspektiven und Lebenshintergründe ein. Doch sie schreiben gemeinsam. In Anteilnahme mit den Hinterbliebenen und im Gedenken: an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
Asal Dardan ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet als freie Autorin in Berlin. Ihr Essayband „Betrachtungen einer Barbarin“ ist 2021 im Hoffmann und Campe Verlag erschienen.



