Kolumne: „Brutal Berlin“

Wohnungsmarkt und Miete: „Der Vorhof zur Hölle ist eine Wohnungssuche in Berlin“

Was ist die Lösung für Berliner, die keine Wohnung finden? Platte? Besetztes Haus? Lichterfelde West? Unsere Autorin hat ein Jahr lang eine Wohnung gesucht.

Selten war es in Berlin so schwierig, Wohnraum zu finden. Unsere Autorin weiß, wovon sie spricht. 
Selten war es in Berlin so schwierig, Wohnraum zu finden. Unsere Autorin weiß, wovon sie spricht. Lea Reusse

Berlin-Ein Tiefpunkt war die Sache mit dem Bot. Dieses Mal war ich wirklich schnell gewesen. Zwei Zimmer in der Elsenstraße, Parkett, um die 600 Euro warm. Die Mail war von 11.03 Uhr, um 11.06 Uhr öffnete ich den bereits deaktivierten Link. Eine irre Wut überkam mich, so wie früher, wenn es das Happy-Meal-Spielzeug meiner Wahl nicht mehr gab. Statt mich auf den Fußboden zu werfen, kontaktierte ich den ImmoScout-Bot. „Hallo und herzlich willkommen, Frau Biringer. Mein Name ist Scouty und ich bin Ihr digitaler Assistent.“

„Hallo, wie kann es sein, dass Anzeigen nach DREI MINUTEN schon wieder offline sind?“ Die Versalien schienen Scouty nicht zu stören, in fehlerfreiem Deutsch nahm er sich meines Anliegens an.

„Entschuldigen Sie bitte, da muss ein Fehler vorliegen. Lassen Sie mich das überprüfen.“

 „Danke. Können Sie sich vorstellen, wie FRUSTRIEREND das ist? Ich bin wirklich wahnsinnig WÜTEND!“ (den McDonald’s-Vergleich sparte ich mir).

„Das tut mir sehr leid. Lassen Sie mich das überprüfen.“

Ich HASSTE den Berliner Wohnungsmarkt so sehr. Und plötzlich konnte ich verstehen, warum Robbenroboter in der Altenpflege eingesetzt werden sollen.

Lage? Fast egal, gerne nicht Wedding

Angefangen hatte meine Wohnungssuche vor einem Jahr, also etwa zu dem Zeitpunkt, als Berlin den Mietendeckel gewaltvoll durchdrückte wie Nudelteig durch eine Spätzlepresse. Freut euch nicht zu früh, hieß es damals.

Als jemand, der Stunden mit der perfekt sitzenden Spülmaschinenfüllung verbringt, war mein Auszug aus der WG überfällig. Durch die journalistische Selbstständigkeit war mein Verdienst unregelmäßig, aber auf einem stabilen Niveau. Außerdem wollten meine Eltern bürgen. Ansonsten galten die Tinder-Kriterien: Single, Nichtraucherin, keine Haustiere.

Als Antwort auf eine meiner ersten Anfragen für eine Einzimmerwohnung im Bergmannkiez bekam ich sogar einen Besichtigungstermin, den ich nicht wahrnahm, weil ich zu verkatert war. Im Nachhinein völlig okay, weil mir klar wurde, dass ich zwei Zimmer brauche. Abgesehen davon waren meine Ansprüche total down to earth. Lage? Innerhalb des Rings (gerne nicht Wedding). Preis? Bis 800 Euro insgesamt (gerne weniger). Balkon wäre super, muss aber nicht sein.

Die Suche erwies sich als Vollzeitjob und ließ sich nur bedingt mit meinem Intervallfasten, was Onlinekonsum betrifft, vereinen. Normalerweise ist mein Telefon vierzehn Stunden täglich im Flugmodus, ich kriege  keine Push-Nachrichten. Jetzt wurde ich ständig von der Vibration der neuesten Wohnungsangebote aufgeschreckt. Immer kopierte ich pronto meine ausgesprochen freundliche Anfrage in die entsprechenden Kontaktformulare hinein. Bloß, dass nie jemand auf meine Mails reagierte. 

Kaum Einzeltermine in der Pandemie

Ob es an Corona lag? Vorbei war die Zeit der Open-House-Sammeltermine, wo arme Seelen bis in die Vorhölle der übernächsten Querstraße anstanden, um sich Stunden später gemeinsam mit einer bayerischen Kleinstadt durch die nicht mehr einwandfrei schließbaren Flügeltüren zu quetschen. Jetzt in der Pandemie wurden nur Einzeltermine vergeben, nur halt nicht für mich, bis auf zwei Ausnahmen.

Einmal fuhr ich mit dem Fahrrad zum südlichsten Ende Neuköllns, wo sogar die Bürgersteige kopfsteingepflastert waren. Die Wohnung war so hübsch saniert, dass ich sofort eingezogen wäre, aber: keine Chance, dass einen da draußen jemals jemand besuchen kommen würde. Die zweite Wohnung war ähnlich randlagig und hatte nichts mit meinem Bild von Charlottenburg zu tun, einem Kiez, in dem doch jeden Tag Wochenmarkt ist und man sämtliche Blumenhändlerinnen mit Vornamen kennt.

Noch dazu war alles, was in der Anzeige stand, erstunken und erlogen. Der Vermieter war ein etwa 75 Jahre altes Männlein, das mich an meinen verstorbenen Geigenlehrer erinnerte. Frei von jeder Scham führte er mich durch die als „2-Zimmerwohnung in Stadtvilla” angepriesene Immobilie, ein schäbiger Fünfzigerjahrebau mit Linoleumboden statt „Dielen”, keinem statt „einem Balkon” und einer Miele-Spülmaschine, die mein für Techniknostalgie empfänglicher Onkel bestimmt in seine Sammlung aufgenommen hätte. Jetzt ergab alles Sinn, die Angabe einer Telefonnummer statt einer E-Mail-Adresse, die nicht vorhandenen 800 Mitbewerber.

Dinner im Sterne-Restaurant bei erfolgreicher Vermittlung

Manchmal schien das Ziel greifbar nah. Unser kettenrauchender Hausmeister versprach, mir eine Liste der in Kürze zu vermietenden Objekte zu schicken, auf die ich bis heute warte. Mein Freund J. (ein Zimmer mit Terrasse am Paul-Lincke-Ufer, 360 Euro warm) hatte den Auszug seiner Nachbarin beobachtet, woraufhin ich der Hausverwaltung schrieb und prompt eine Antwort erhielt: Für knapp 300.000 Euro könne ich das Objekt gerne käuflich erwerben.

Mir wurde vieles geraten: Genossenschaften, Ebay-Kleinanzeigen, die Sprechstunde der Deutsche Wohnen. Mein Physiotherapeut hatte die Idee, ein Gesuch bei Nebenan.de aufzugeben, zusammen mit der Aussicht auf ein Dinner im Sterne-Restaurant bei erfolgreicher Vermittlung. Hat nicht funktioniert. Eine Bekannte empfahl, mir für die Suche nach potenziellem Leerstand Zugang zu jedem infrage kommenden Haus in meinem Wunschkiez zu verschaffen. Dafür war meine kleinkriminelle Ader nicht ausgeprägt genug.

1500 Anfragen pro Anzeige

Gegen Ende des Sommers 2020 war ich verzweifelt genug, eine Premiummitgliedschaft bei ImmoScout einzugehen, die ich bis dahin aus vermeintlicher Systemkritik abgelehnt hatte (tatsächlich war ich zu geizig). Mein Profil umfasste jenes Foto, das ich einige Monate zuvor bei einer feministischen Instagram-Challenge verwendet hatte, wohl wissend, wie schäbig das war. Für den zugehörigen Text hätte ich mich an jeder anderen Stelle ins Bodenlose geschämt, von wegen „wehende Vorhänge“ und „Schreibtisch im Schattenspiel“, aber ich dachte, so was wollen sie vielleicht lesen, die Halsabschneiderhausverwaltungen.

Von nun an verfolgte ich die Zugriffszahlen meiner Wunschimmobilien wie andere die Inzidenzwerte. Auch dafür bezahlt man in der Premiumliga: um zu sehen, wie viele andere Wanderer zugleich das tiefe Tal der Berliner Wohnungsnot durchwandern. Nach vier Tagen hatten 1733 User dieselbe Immobilie mit einem Herz versehen wie ich und 844 davon eine Kontaktanfrage gesendet.

Einmal war ich die Erste, die ihr komplettes Leben – Personalausweiskopie, Schufa, Mietschuldenfreiheit, Kontoauszüge und Mamas Rentenbescheid – an ein möglicherweise zwielichtiges Maklerbüro geschickt hatte, und selbst darauf bekam ich keine Antwort. Ein anderes Mal schickte ich einer Wohnungsgesellschaft eine Mail mit der Betreffzeile „Verzweifelt“, die das Herz einer Büromitarbeiterin erweichte, die mich damit tröstete, dass sie pro Anzeige „nun mal um die 1500 Anfragen“ bekämen.

Manche dieser Anzeigen waren einfach nur dreist. Eine Junkiebude mit vollgekritzelten Wänden für „Selbstrenovierer“, befristet auf zwei Jahre. Ein Balkon mit Blick auf den Großmarkt am Westhafen. Und doch würden auch diese „Perlen“ gewiss ihre Abnehmer finden, denn so funktioniert der Wohnungsmarkt in Berlin, und wer sich beschwert, soll doch nach Frankfurt oder München abhauen, da wirste kieken, oder, wie ich, zurück in sein schwäbisches Dorf.

Zu teuer, schon weg oder in Lichterfelde West

Natürlich versuchte ich es auch auf privatem Weg. Ich postete kreative Statusmeldungen für meine 1448 Facebook-Freunde und regenbogenfarbene Instagram-Storys. Immer mal wieder wurden mir tatsächlich Angebote weitergeleitet, aber sie waren entweder zu teuer oder schon weg oder in Lichterfelde West. Ein einziges Mal sah ich mir so ein Freunde-von-Freunden-Ding an, eine OP-kittelblaue Wohnung in einem Gebäude mit bröckelnder Fassade in Wedding (vielleicht würde der ja doch irgendwann kommen?), für 950 Euro, falls der Mietendeckel gekippt würde.

Der sei, so hörte ich oft, schuld an der Misere, eine politische Totgeburt, die wieder mal nur die Schwächsten treffe. Dabei war ich, das muss hier noch mal festgestellt werden, kein Sozialfall. Was, fragte ich mich, machten die Leute, die wirklich etwas brauchten? Platte? Besetztes Haus? Lichterfelde West? Und dann das: Die Pessimisten sollten recht behalten: Mietendeckel gekippt, Rückzahlungsforderungen verfassungskonform, tja, da kiekste. Immerhin hatten wir das entsprechende Geld zurückgelegt.

Dann war da der Tipp mit dem Bot. Der Freund eines Freundes hatte sich eine Art digitalen Makler programmiert, der ihn bei jeder Veränderung einer Website benachrichtigte, sprich, sobald eine Wohnungsanzeige online ging. Auf diesem Weg hätte S. es beinahe geschafft, eine Gewobag-Wohnung zu ergattern, aber eben nur beinahe. Als ich das hörte, musste ich lachen, das befreite Lachen einer, die nach vielen dunklen Monaten das Licht erblickt hatte. Inzwischen hatte ich nämlich meinen Umzug in eine andere Stadt organisiert.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.