Als Olaf Scholz am letzten Sonntag in dreißig Minuten mehr als dreißig Jahre SPD-Ostpolitik abräumte, stockte vielen Abgeordneten im Deutschen Bundestag der Atem. Und als er schließlich erklärte, was diese „Zeitenwende“, der Überfall Russlands auf die Ukraine, militärisch und finanziell bedeuten würde, verschlug es ihnen vollends die Sprache.
„Wir werden ein Sondervermögen ‚Bundeswehr‘ einrichten – und einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten“, sagte der Bundeskanzler und pulverisierte die verteidigungspolitische Position der Sozialdemokraten und vieler linker Grüner. Aus deren Fraktion soll Luise Amtsberg Tränen in den Augen gehabt haben; Renate Künast schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Doch mittlerweile haben vor allem junge Abgeordnete von SPD und Grünen die Fassung zurückgewonnen – und wollen die verteidigungspolitische Wende so nicht mitmachen. Sie lehnen die Höhe des Sondervermögens ab und zweifeln an einer Übererfüllung des Zwei-Prozent Ziels der Nato für Verteidigungsausgaben, was Scholz ebenfalls angekündigt hatte.
Eine sicherheitspolitische Zeitenwende
Den Anfang machte die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal. Der Süddeutschen sagte die 29-Jahre alte Abgeordnete vergangene Woche: „Ich trage mit, dass wir eine wehrhafte Bundeswehr brauchen.“ Sie machte aber klar, was sie von der Finanzspritze hält. „Es bringt nichts, weitere Milliarden Euro in einem schwarzen Loch zu versenken.“ Mit dem Loch meinte sie die Bundeswehr. „Wir brauchen kein Konjunkturpaket für die Rüstungsindustrie.“
Damit war die alte Linie wiederhergestellt: Verteidigungsausgaben gelten da als Geschäfte des militärisch-industriellen Komplexes. Auch ihre Ampel-Kollegin Jamila Schäfer, ehemalige Vorsitzende der Grünen Jugend, teilte am Donnerstag gegenüber der Berliner Zeitung am Wochenende mit, dass Olaf Scholz zwar zu Recht von einer sicherheitspolitischen Zeitenwende spreche. „Allerdings ist Sicherheit mehr als das, was er und Christian Lindner darunter verstehen: Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro nur für militärische Ausrüstung wird unseren sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht gerecht.“
Nun waren die Haltungen der Jugendorganisation linker Parteien stets widerborstig. Nicht umsonst steht „Jusos“ für Jungsozialisten und nicht für Junge Sozialdemokraten. Sie sollen die Mutterparteien vor sich hertreiben. Doch hatten die Jungen in den Fraktionen früher wenig Gewicht. Das hat sich bei der letzten Bundestagswahl geändert. Mit 49 Jusos machen die Mitglieder der Organisation nun fast ein Viertel der SPD-Abgeordneten aus. Bei den Grünen sind 22 MdBs unter 30. Ohne ihre Stimmen gäbe es keinen Kanzler Olaf Scholz. Ohne ihre Stimmen wäre Scholz bei der Erhöhung des Wehretats auf die Union angewiesen. Ob Rosenthal und Schäfer die ablehnende Haltung auch ihren jungen Kolleginnen und Kollegen in den jeweiligen Fraktionen empfehlen, war von ihnen nicht zu erfahren.
Das Ganze weckt unschöne Erinnerungen an die Verwerfungen innerhalb der SPD unter Helmut Schmidt, dessen Kanzlerschaft am Ende vor allem am Streit über die Nachrüstung zerbrach. Doch heute ist die Situation komplizierter. Einmal müsste der SPD nicht nur die FDP von der Stange gehen. Auch die Grünen müssten zu einer Jamaika-Koalition wechseln wollen. So weit ist aber drei Monate nach dem Amtsantritt der neuen Regierung niemand. Ein Faktor, der zur Unzufriedenheit der Abgeordneten beigetragen haben mag, könnte dabei sein, dass die Fraktionen vor Scholz‘ Rede zwar über die Schaffung eines Sondervermögens unterrichtet worden waren, jedoch nicht über dessen Höhe. So zumindest berichtet es ein Abgeordneter aus der FDP-Fraktion, die in dieser Weise informiert wurde.
„Eine Welt ohne Nato und Armeen“: Gründe Jugend pazifistisch
In der Süddeutschen hieß es sogar, Scholz habe allein FDP-Chef Christian Lindner über die Dimension des Sondervermögens in Kenntnis gesetzt. Das ließe sich noch mit der Tatsache erklären, dass Lindner als Finanzminister entscheidend für die Anwendung des Finanz-Instruments ist, würde aber nicht erklären, wieso beispielsweise SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und die Grünen-Spitze dem Bericht nach nicht informiert gewesen sein sollen. Eine plausiblere Erklärung erscheint die Haltung Mützenichs, der noch nach dem Beginn der russischen Invasion an der nuklearen Teilhabe der Nato gezweifelt hatte und der Ablehnung der Nato insgesamt unter einigen Grünen.
Zur Veranschaulichung lohnt beispielsweise ein Blick in das „Selbstverständnis“-Dokument der Grünen Jugend. Das ist eine Art Grundsatzprogramm. Hier wird die Haltung des Parteinachwuchses klar formuliert. Wer dort nach „Russland“ sucht, findet auf 67 Seiten keinen Treffer. Wer aber nach „Nato“ sucht, stößt unter 10.2 auf den Abschnitt „Eine Welt ohne Nato und Armeen“. Darin heißt es unter anderem: „Besonders die Nato stellt in unseren Augen eine Gefahr für den Frieden dar. Ihre Logik ist im Kalten Krieg stecken geblieben und sie verfolgt ihre Interessen einseitig und mit militärischen Mitteln. Die Nato ist ein Militärbündnis, sie ist als solches endgültig überholt und muss als solches endgültig abgeschafft werden.“
Die Union scheint bereit zu sein, ein Sondervermögen zu verabschieden
Diese Haltung erinnert unangenehm an die Argumentation Putins, der die angebliche Bedrohung durch das Militärbündnis als Rechtfertigung für seinen Krieg missbraucht. Doch auf die Passage angesprochen, reagierte die Grüne Jugend über mehrere Tage überhaupt nicht. Schließlich verweist eine Sprecherin auf die Aussagen des Co-Vorsitzenden gegenüber der dpa. Doch um die Abschaffung der Nato geht es in den Statements gar nicht. Timon Dzienus bemängelt dort einmal, die Entscheidung habe „ohne jegliche politische oder gesellschaftliche Debatte“ stattgefunden. Außerdem resultiere der vermeintliche Investitionsbedarf bei der Bundeswehr „insbesondere aus Missmanagement und Fehlplanung, nicht aus fehlendem Budget“.
Das überrascht, denn bisher war nicht bekannt, dass die Grüne Jugend die Effizienz der Bundeswehr kritisiert. „Die Argumente sind vorgeschoben“, sagt der Abgeordnete einer anderen Fraktion. Zu dem Thema habe die Grüne Jugend nicht einmal ein Positionspapier. Die frisch gewählte, 28 Jahre alte Parteichefin der Grünen, Ricarda Lang, äußerte sich zurückhaltender. Man werde aber in jedem Falle die Basis einbeziehen. Es lässt sich jedoch nicht nur Ablehnung, sondern auch eine Art Gegenangebot der jungen linken Politikerinnen erkennen. Schäfer beispielsweise erklärt: „Es ist richtig, dass die Ampel jetzt schnell und entschlossen neuen finanziellen Spielraum schafft. Dazu gehört auch eine ergebnisoffene Prüfung der Schuldenbremse.“
Ähnliches sagen Rosenthal und Dzienus. Schulden für die Bundeswehr wären in Ordnung, wenn es die auch für Bildung, Gesundheit und Soziales gäbe, so die Idee. Einziges Problem dabei ist, dass die Schuldenbremse schon dort steht, wo das Sondervermögen erst noch hinsoll: im Grundgesetz. Für eine Abschaffung bräuchte die Ampel daher die Union. Daher wirkt der Vorschlag nicht besonders realistisch. Beim Sondervermögen hingegen, das ebenfalls nur mit Zweidrittelmehrheit ins Grundgesetz kommen kann, scheint die Union bereit. Während bei der Grünen Fraktion am Sonntag niemand klatschte und nur verhaltener Applaus aus der SPD kam, erhoben sich die hinteren Plätze bei Scholz’ Ankündigung zu Standing Ovations.
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