Weil er in der ersten Wahlrunde die absolute Mehrheit verfehlte, geht es für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Sonntag in die Stichwahl. Er will das dritte Mal in Folge gewählt werden. Seit 2014 ist er im Amt. Die Sorgen der Bevölkerung aber waren nie größer, ebenso die Kritik an seiner Finanzpolitik.
Schwache Lira, teures Leben: Die Krise der Türkei
Spätestens seit der Corona-Krise hat er die Kontrolle über die Wirtschaft verloren. Die Inflation liegt heute bei 50 Prozent, Armut und Firmenpleiten grassieren, immer mehr Türken versuchen ihr Geld in US-Dollar und Euro statt in türkischer Lira zu halten, der Wechselkurs ist seit 2014 um fast 1000 Prozent gefallen. Früher konnte man 100 Lira gegen 45 Dollar tauschen, heute bekommt man nur noch fünf dafür.
Das ist aus zwei Gründen ein großes Problem. Erstens weil die Banken und Firmen der Türkei einen riesigen Berg an Dollar-Schulden angehäuft haben, fast 500 Milliarden US-Dollar. Je weiter der Lira-Kurs fällt, desto mehr Lira müssen die Firmen und Banken verdienen, um den Dollar-Berg abzutragen. Eine klassische Schuldenspirale, an deren Ende Firmenpleiten stehen. Zweitens befeuert der Lira-Sturz die ohnehin hohe Inflation, weil Importe in Lira teurer werden. Ausgerechnet die Güter, die die Türkei importiert, etwa Öl, Gas, Chemie und Metalle, sind erst durch den Ukraine-Krieg an der Börse teurer geworden und dann zusätzlich dadurch, dass die Importeure immer mehr Lira für einen Dollar eintauschen mussten. Und die Türkei ist extrem auf Importe angewiesen, allein letztes Jahr wurden Güter im Wert von 363 Milliarden US-Dollar importiert, das entspricht fast 40 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Zinsen runter statt rauf: Ist Erdogan ein ökonomischer Geisterfahrer?
VWL-Studenten bekommen beigebracht, dass in einer solchen Situation Zinserhöhungen das Mittel der Wahl sind. Um die Inflation zu dämpfen und den Lira-Sturz zu stoppen. Erdogan sieht das anders. Er sieht hohe Zinsen selbst als Inflationstreiber, ist deshalb gegen Zinserhöhungen und spricht seit Jahren von der westlichen „Zins-Lobby“, gegen die er sich wehre.
Entsprechend rabiat räumt er in der eigenen Zentralbank auf. Der aktuelle Notenbankchef Sahap Kavcioglu ist der dritte in wenigen Jahren, die Vorgänger hat er rausgeschmissen, weil sie die Zinsen erhöht hatten. Nach europäischen Standards ein Unding, hier gilt die Unabhängigkeit der Zentralbank fast als heilig. Kavcioglu ist voll auf Erdogan-Kurs und hat die Zinsen seit 2021 schrittweise von 19 auf 8,5 Prozent gesenkt – entgegen allem, was Mainstream-Ökonomen raten und Investoren an Finanzmärkten erwarten.
Die Gründe für Erdogans Experiment
„Erdonomics“ wird die Politik schon scherzhaft genannt. Doch es gibt auch Gründe für die Politik. Die Türkei war in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder Opfer von Finanzspekulanten, die sich Geld zu Niedrigzinsen in der EU oder den USA liehen und das Geld in der Türkei zu Hochzinsen anlegten. Weil sich das Geschäft lohnte und von vielen Spekulanten gleichzeitig betrieben wurde, war die Lira jahrelang überbewertet – ein Problem für den türkischen Export und den Tourismus, die deshalb verhältnismäßig teuer waren.
Durch den jüngsten Absturz gilt mittlerweile allerdings das Gegenteil. Türkische Exporte und Hotels sind in Euro oder Dollar plötzlich günstig, deren Geschäft brummt, aber die Importeure und Schuldner leiden. Völlig untätig ist Erdogan außerdem nicht, er versucht die Bevölkerung zu animieren, ihre Devisen auszugeben; er garantiert Sparern, dass der Staat einspringt, wenn Wechselkursverluste stärker seien als der von der Bank versprochene Sparzins; und sein Zentralbankchef Kavcioglu nutzt die Devisen der Zentralbank, um den Lira-Kurs zu beflügeln. Man kann also sagen: Erdogan legt sich mit den Finanzspekulanten an. Allein seine Mittel sind sehr begrenzt, weil die Finanzmärkte groß sind und die Türkei klein ist. Und die Spekulanten wissen, dass die Devisen der Zentralbank endlich sind.
Finanzpolitik für die Wiederwahl
Ein anderer Grund für die Niedrigzinsen: die Wiederwahl. Hohe Zinsen helfen vielleicht gegen den Kursverfall, nicht aber gegen teure Börsenpreise für Öl und Gas und sie schaden der inländischen Wirtschaft, weil sie Investitionen abwürgen. 2021 wuchs die Wirtschaft um elf, letztes Jahr um fünf Prozent, das sollten Erdogans Pfründe für den Wahlkampf werden. Mit drastischen Zinserhöhungen hätte er das gefährdet, mit Zinssenkungen hat er es gar befördert.
Nicht von ungefähr kommt deshalb auch, dass Erdogan Mindestlöhne und Renten seit 2021 stark steigen ließ, beides kurbelte den Konsum und das Wachstum an. Zum Jahreswechsel 2023 hob er den Mindestlohn abermals um 50 Prozent an und verdoppelte sogar die Mindestrenten. Einerseits war es geboten, weil die Inflation die Armut grassieren ließ, andererseits war es ein Wahlkampfmanöver, um den Schmerz durch die hohe Inflation zu kaschieren. Für die Zeit nach der Wahl hat er sich damit allerdings keinen Gefallen getan, weil derart drastische Lohnerhöhungen, so geboten sie sozial auch sind, selbst zum neuen Preistreiber werden.






