Zum ersten Mal kommt er nicht aus den Reihen der Linken oder der AfD: der Vorschlag, Nord Stream 2 schleunigst (aber nur vorübergehend) zu öffnen, damit „die Menschen im Winter nicht frieren und die deutsche Industrie nicht schweren Schaden nimmt“. Das hat nun der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki geäußert.
Sein Argument: Deutschland würde dadurch mehr gewinnen als Putin. Und zwar wenn mehr Gas nach Deutschland käme. Und falls nichts ankäme, dann würde Deutschland auch nichts verlieren. Für größere Lieferungen zu sorgen, sei die oberste Priorität der Bundesregierung. Und wenn man von Russland unabhängig geworden sei, könne man Nord Stream 2 und andere Pipelines schließen, so Kubicki. Sein kühner Vorschlag hat einen konkreten Bezug: Sowohl der Kreml-Chef Wladimir Putin als auch der Gazprom-Chef Alexei Miller hatten in der Vergangenheit mehrmals signalisiert, dass Nord Stream 2 jederzeit bereit wäre, Gas nach Europa zu liefern.
Deutschland würde mit dem Start der Pipeline vielleicht nichts verlieren, doch seine politische Spaltung wäre so gut wie garantiert. Das wäre politischer Sprengstoff pur. „Wolfgang Kubicki ist schon die Wagenknecht der FDP?“, ironisiert der Volksverpetzer auf Twitter. Kurz darauf sprang die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht Kubicki bei.
#Kubicki hat Recht: Es gibt keinen vernünftigen Grund, #NordStream2 nicht zu öffnen. Sollte darüber mehr #Gas bei uns ankommen, nützt das den Menschen & der Industrie in Deutschland mehr als Putin. https://t.co/55S2qEJEmj
— Sahra Wagenknecht (@SWagenknecht) August 19, 2022
Politischer Konsens wichtiger als genug Wärme für Haushalte und Wirtschaft?
Allein die empörten Reaktionen auf Kubickis Vorschlag innerhalb der FDP zeigen, wie unpopulär sein Vorschlag ist. Der FDP-Mann Alexander Graf Lambsdorff verweist bei Twitter darauf, dass Nord Stream 1, die Jamal-Pipeline über Polen und die Ukraine-Route Putin bereits zur Verfügung stehen würden. Lambsdorff teilt dabei die Einschätzung der Journalistin Constanze Stelzenmüller: Mag sein, dass der Start von Nord Stream 2 mehr Wärme für Deutschland bedeuten würde. Aber man würde im Alleingang den politischen Konsens in Nato und EU zerstören.
Putins „Erpressung“ nachzugeben wäre nicht nur ein fatales Zeichen an die Ukraine und andere Partner, sondern würde Deutschland in neue Abhängigkeiten führen, legt der FDP-Politiker Olaf in der Beek nahe – und viele, viele andere auch. Es ist glasklar: Der politische Konsens ist viel wichtiger als ausreichend Gas für Haushalte und Wirtschaft.
Gerade die zwiespältige Position der Ukraine zur Zukunft der russischen Gaslieferungen wirft einen Schatten auf den gut gemeinten politischen Konsens des Westens. Aufrufe einiger deutscher Politiker, Nord Stream 2 für eine Weile zu starten und später zu schließen, seien völlig irrational, schreibt der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba am Freitag auf Twitter – damit bezieht er sich auf Kubicki. „Das ähnelt einer Drogensucht, wenn jemand sagt: ‚Nur noch ein letztes Mal!‘, ohne sich der verheerenden Folgen jedes ‚letzten Mals‘ bewusst zu sein“, so Kuleba. Seine Warnung zum Schluss: „Die Sucht nach russischem Gas tötet!“
Calls by some German politicians to launch NS2 for a little while and close it later are totally irrational. This resembles drug addiction, when a person says “Just one last time!” without realizing the devastating consequences of each “last time”. Addiction to Russian gas kills!
— Dmytro Kuleba (@DmytroKuleba) August 19, 2022
Dabei war es vor kurzem genau das ukrainische Energieministerium, das auf Anfrage der Berliner Zeitung die eigentliche Position der Regierung in Kiew etwas anders darstellte, nämlich: Russland solle mehr Gas nach Europa liefern – aber eben für Transitgebühren über die ukrainische Route. „Die Ukraine kann Nord Stream 1 vollständig ersetzen“, sagte eine Sprecherin des Ministeriums dazu.
Die Transitkapazitäten des ukrainischen Gasnetzes würden den Transport der gesamten erforderlichen Gasmenge in die EU ermöglichen. Gazprom müsste nur die Gaslieferungen nach Europa über die ukrainische Route erhöhen – und über die vertraglich maximal zugesicherten Mengen auf die gesamte Kapazität des ukrainischen Gastransportnetzes liefern. Über den Vertrag hinaus könnte die Ukraine sogar weitere 135 Millionen Kubikmeter russisches Gas nach Europa liefern, falls die EU-Länder es bräuchten, so das ukrainische Ministerium.
Das hätte allerdings gar nichts mit der angestrebten Unabhängigkeit Europas von russischem Gas zu tun. Die „Sucht“ nach russischem Gas sowie die russischen Staatshaushaltseinnahmen wären so gesichert.





