Glauben Sie dem Kanzler? Glauben Sie, dass er einfach leider keine Erinnerungen mehr an seine drei Treffen mit dem Ex-Chef und Mitinhaber der Warburg-Bank hat? Wohlgemerkt an Gespräche, in denen es um Millionen Euro von hinterzogenen Steuern ging. Mit einem der mächtigsten Bankiers Hamburgs, gegen dessen Bank Ermittlungen und Razzien liefen.
70 Prozent der Deutschen glauben Scholz nicht. Das ergab letztes Jahr eine repräsentative Umfrage im Auftrag von Focus.
Zugegeben: Der Cum-Ex-Skandal mit all seinen Details und Wirrungen ist kompliziert. Man kann sich in Details verlieren. Und Hunderte Seiten lange Bücher schreiben, die sich wie ein Polit-Thriller lesen. Drei der Hauptdarsteller: Olaf Scholz (SPD), früher Erster Bürgermeister in Hamburg, heute Bundeskanzler; Peter Tschentscher (SPD), früher Finanzminister in Hamburg, heute als Nachfolger von Scholz Erster Bürgermeister; und die Finanzbeamtin Daniela P. Alles dreht sich um die Frage: Hat die Politik Einfluss auf das laufende Steuerverfahren gegen die Warburg-Bank genommen? Wollte die Politik den mächtigen Privatbankier, Christian Olearius, schützen? Das wäre nicht nur unanständig, sondern auch strafbar.
Gefährlich wird der Fall für Scholz außerdem, weil Olearius minutiös Tagebuch über seine Machenschaften – und seine Treffen mit Scholz – führte, und die Ermittler die Tagebücher fanden. Kaum auszumalen, wie Politprofi Scholz sich darüber geärgert haben muss. Bis dahin war nämlich nur eines der drei Treffen bekannt. Und kaum Details. Erst durch die Tagebücher musste Scholz seine Strategie auf „Ich kann mich nicht erinnern“ wechseln. Wie in einem schlechten Drehbuch!
Nun will die CDU/CSU einen zweiten Cum-Ex-Untersuchungsausschuss im Bundestag. Der erste fand 2017 statt, drehte sich aber kaum um die Warburg-Affäre. Die Details der Tagebücher waren damals nicht bekannt. Seit zwei Jahren läuft zudem im Hamburger Parlament ein Untersuchungsausschuss. Macht man sich mit den Presseberichten aus den Tagebüchern von Olearius, den Inhalten aus drei Befragungen im Bundestag, einer (zunächst verhinderten) Razzia der Kölner Staatsanwaltschaft in Hamburg sowie dem Untersuchungsausschuss des Hamburger Parlaments bekannt, kann man einige offene Fragen formulieren. Diese setzen Olaf Scholz jetzt verstärkt unter Druck.
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Olaf Scholz und Christian Olearius: Warum drei Treffen?
Als Scholz im März 2020 das erste Mal im Bundestag zu Warburg sprach, beteuerte er, dass er Cum-Ex-Geschäfte schon immer für illegal gehalten habe, egal wie viele Gutachten irgendwelche Professoren oder Rechtsanwälte produzierten. Wenn das so ist, wieso traf sich Scholz dann gleich dreimal mit Olearius? Hätte nicht ein Treffen gereicht, um dem Banker diese glasklare Position mitzuteilen? Und warum fanden Treffen Nummer zwei und drei ohne Zeugen statt?
Beim ersten Treffen war noch ein Referent aus dem Wirtschaftssenat dabei, der Scholz gar mit einer Tischvorlage vor Olearius warnte. Weil zeitgleich gegen Olearius’ Bank ermittelt wurde. Und wie glaubhaft ist, dass ausgerechnet Aktenfresser Scholz diese Vorlage nie gelesen hat?
Warum der Sonderweg für die Verteidigungsschrift?
Zum zweiten Treffen brachte Olearius demnach die siebenseitige Verteidigungsschrift mit, die er auch dem Finanzamt geschickt hatte, um sich gegen die millionenschwere Steuerrückforderung zu wehren. Zu dem Zeitpunkt hatte die Finanzbeamtin Daniela P. längst alles vorbereitet, um die hinterzogenen Steuern zurückzuholen. Zwei Wochen nach dem Treffen ohne Zeugen rief Scholz Olearius von sich aus an. Olearius solle das Schreiben „kommentarlos“ an Finanzminister Tschentscher schicken.
Der unterstrich die Argumente der Bank mit grüner Tinte, die nur dem Senator und den Ministern vorbehalten ist, und leitete das Schreiben an die Beamtin Daniela P. weiter. Darauf der Verweis, dass er über weitere Schritte informiert werden will. Tage später wird die Beamtin ins Ministerium eingeladen und entscheidet in einer Beamtenrunde, die Steuern doch nicht zurückzufordern – und die Millionen verjähren zu lassen.
Warum sollte das Schreiben ein zweites Mal seinen Weg zur Beamtin P. finden? Und warum diesmal von ganz oben? Tschentscher ist nämlich der Vorgesetzte von Frau P. Wie soll sie den Vorgang verstehen, wenn nicht als Hinweis von oben, wenn nicht als Einmischung der Politik? Die Kehrtwende der Beamtin ist so betrachtet nur nachvollziehbar. Oder sollte eine einfache Beamtin in einem solch brisanten Millionen-Fall gegen die grüne Senatorentinte entscheiden? Die Frage stellt sich: Soll die Beamtin zum Bauernopfer gemacht werden?
Scholz, Tschentscher und Olearius: Wenn das keine Einflussnahme ist, was dann?
Und es wird noch widersprüchlicher. Olaf Scholz beteuert, keine Erinnerungen darüber zu haben, ob er sich mit Tschentscher über die Verteidigungsschrift ausgetauscht hat. Gleichzeitig gibt er aber in einer Befragung im Bundestag zu Protokoll, dass Tschentscher keinen Einfluss genommen hat. Woher die Sicherheit, wenn er sich nicht erinnern kann?
Investigativ-Journalist Oliver Schröm zitiert in seinem Buch „Cum-Ex-Files“ eine bemerkenswerte Aussage von Scholz. Scholz habe die Verteidigung nicht selbst weitergeleitet, da allein die „Tatsache der Weiterleitung durch den Ersten Bürgermeister Anlass zu Interpretationen hätte geben können“. Nachvollziehbar. Aber gilt nicht gleiches dann auch für eine Weiterleitung durch den Finanzminister?
Scholz und Warburg-Affäre: Woher kommen die Erinnerungslücken?
Die Erinnerungslücken des Bundeskanzlers sind längst zum Running Gag geworden. Erst als eine große Investigativ-Reportage von Schröm über die Tagebücher von Olearius herauskommt, wechselt Scholz seine Strategie. Durch die Reportage werden zwei weitere Treffen und der Vorgang der Verteidigungsschrift bekannt. In den Befragungen im Bundestag am 9. September 2020 kam Scholz zwar mit Terminbestätigungen aus seinem Kalender, allerdings ohne Erinnerungen. Plötzlich alles weg, vorher hatte er die Erinnerungen nie in Zweifel gezogen, jetzt werden sie zum letzten Rettungsanker.
Wie glaubhaft ist das? Der Bürgermeister kann sich nicht an Einzeltreffen mit einem der größten Hamburger Steuerbetrüger erinnern, als wären es beiläufige Gespräche mit einem Pommesbudenbesitzer? Auch nicht, dass er aktiv zum Hörer griff und Olearius anwies, die Verteidigungsschrift an Tschentscher zu schicken? Glauben Sie das?
Zum Verhängnis werden kann für Scholz die vorherige Befragung im Juni. Dort erinnerte er, dass er Olearius zum Geburtstag und zum Jubiläum sprach: 2012 und 2018. Auch erinnerte er Details von dem letzten der drei Treffen in 2017, nämlich daran, dass er sich Olearius Sicht nicht zu eigen machte. Das macht seine „Weiß nicht mehr“-Strategie unglaubwürdig. Auch, dass Scholz in anderen Kontexten nicht für Gedächtnisschwund bekannt ist.
In jedem Indizienprozess hätte er schlechte Karten. Die 70 Prozent der Deutschen, die Scholz den Gedächtnisschwund nicht abkaufen, haben eine Antwort auf die offenen Fragen verdient!
Mehr zum Thema: Lesen Sie die ausführliche Recherche von Fabio De Masi zur Warburg-Affäre.
































