Migration

Gerald Knaus zu Asyl-Beschluss der EU: „Humane Strategie statt illegaler Gewalt“

Der Migrationsexperte Gerald Knaus sagt: Deutschland kann dafür sorgen, dass beim Asyl die Menschenrechte geschützt werden. Vor allem die Grünen sind gefordert.

Der Soziologe Gerald Knaus. 
Der Soziologe Gerald Knaus. dpa

Um ein humanes Asylrecht und eine moderne Einwanderungspolitik in Europa zu gewährleisten, sollte Deutschland eine Führungsrolle übernehmen. Der Migrationsexperte und Gründer der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI), Gerald Knaus, sagte der Berliner Zeitung: „Der Koalitionsvertrag ist in dieser Hinsicht schlüssig. Er sieht vor, dass eine Gruppe von Staaten Verhandlungen auch mit sicheren Transit- und Drittstaaten führt, um so eine humane Reduzierung irregulärer Zuwanderung sicherzustellen.“ Aktuell habe er „manchmal aber das Gefühl, dass nicht alle in den Parteien, die den Koalitionsvertrag verhandelt haben, sich auch überlegt haben, wie das Ziel, irreguläre Migration in die EU human zu reduzieren, zu erreichen wäre. Solange es dafür aber keine überzeugende humane Strategie gibt, setzen andere Staaten in der EU weiter auf illegale Gewalt“. Ein Ansatz humaner Kontrolle sollte in Kooperation mit Frankreich und den Niederlanden umgesetzt werden: „Dazu braucht es nicht immer die ganze EU“, sagte Knaus.

Die Bundesregierung braucht allerdings „ein klares Konzept, am besten gemeinsam mit der Union, weil ja auch die Bundesländer involviert sind“. Die vielleicht schwierigste Hürde müssen dabei offenbar die Grünen nehmen. Knaus: „Manche Grüne sind immer noch prinzipiell gegen das Prinzip sicherer Drittstaaten. Dabei brauchen wir weltweit eine Strategie für mehr sichere Staaten für Asyl und Flüchtlinge, und dafür mehr Anreize. Gelingt das nicht, werden Pushbacks weltweit weiter zunehmen.“ Knaus sagt, man habe in Italien gesehen, wie als Reaktion auf Jahre wachsender irregulärer Migration seit 2017 ein breiter Konsens für eine restriktive Politik entstand, bis hin zur Kooperation mit oft brutalen libyschen Institutionen. Auch in den USA sei dies zu beobachten: „US-Präsident Joe Biden hat in seinem Wahlkampf angekündigt, eine offene Einwanderungspolitik machen zu wollen. Seit er Präsident ist, gab es mehr Abschiebungen ohne Asylverfahren als unter Donald Trump“, so Gerald Knaus.

Hintergrund der aktuellen Diskussion sind die kürzlich gefassten EU-Beschlüsse zu einer Reform des EU-Asylrechts. Der neue Ansatz sieht einen verbindlichen Mechanismus mit dem Ziel einer gerechteren Verteilung Schutzsuchender auf alle EU-Staaten vor. Die geplante Reform enthält aber auch Verschärfungen. Insbesondere die vorgesehenen Grenzverfahren, die Asylverfahren vorgeschaltet werden sollen, um Menschen ohne Schutzberechtigung schnell wieder zurückschicken zu können, sorgen für Kritik. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem Tabubruch und warnen vor unmenschlichen Bedingungen. Die sogenannten Grenzverfahren höhlen nach Einschätzung des Europäischen Flüchtlingsrates (ECRE) das Recht auf Asyl aus. Grenzverfahren fänden fast immer in einer Situation der Inhaftierung statt, in der die Menschen keinen Zugang zu Schutzmaßnahmen und Anwälten haben, die aber erforderlich seien, um den Ablauf fair zu gestalten, sagte ECRE-Direktorin Catherine Woollard dem Evangelischen Pressedienst. Auch Gerald Knaus kritisiert, dass diese Beschlüsse ihre Ziele nicht erreichen würden: „So, wie es jetzt beschlossen wurde, wird irreguläre Migration in die EU weiterhin nur durch illegale Pushbacks reduziert werden.“

Knaus erläutert, dass daher dringend Vereinbarungen auch mit sicheren Drittstaaten geschlossen werden müssen, eine neue Art von „Mobilitätspartnerschaften“. „Nur durch Kooperation haben wir eine Chance, dass Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden.“ Partnerländer sollten ab einem Stichtag abgelehnte Asylwerber aufnehmen und Visaerleichterungen und legalen Zugang für Kontingente von Arbeitskräften erhalten. Knaus nennt Tunesien, Marokko, den Senegal und die Türkei als mögliche Partner. Die EU sollte Tunesien und Marokko wie schon der Türkei bei Erfüllung von Menschenrechtsstandards auch Visafreiheit in Aussicht stellen. Knaus sagt, dass auch das detaillierte Memorandum, das Großbritannien mit Ruanda geschlossen habe, „nicht reflexartig abgelehnt werden sollte – auch wenn wichtig bleibt, das britische Gerichte gerade genau prüfen, ob Ruanda tatsächlich und nicht nur auf Papier ein sicheres Drittland ist“. Die Zusammenarbeit mit anderen Ländern sollte darauf abzielen, dass EU-Mitgliedstaaten mit Drittländern „auch Kontingente vereinbaren, um legale Arbeitsmigration und mehr Stipendien zu ermöglichen“. Das legale Resettlement von Flüchtlingen nach kanadischem Vorbild sollte auch dringend ausgebaut werden. Zugleich würden aber „jene, die irregulär kommen, die keinen Schutzgrund haben oder für die faire Verfahren in Drittstaaten stattfinden können ab einem Stichtag dorthin gebracht werden.“ Schon seit 2019 bringe das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Asylsuchende aus Libyen nach Ruanda und führe dort auch Asyl-Verfahren durch.

Knaus plädiert in diesem Zusammenhang auch für eine verbesserte Neuauflage des EU-Türkei-Deals, die dabei Zustände wie im abgebrannten Elendslager Moria vermeiden müsse. Die Kooperation habe vier Jahre lang die irreguläre Migration in der Ägäis ohne Pushbacks reduziert und dabei Syrer in der Türkei unterstützt. Knaus: „Leider halten sich seit März 2020 weder Griechenland noch die Türkei an den Deal. Die Türkei nimmt seitdem niemanden mehr zurück und ist für viele Asylsuchende heute auch nicht sicher. Griechenland macht systematisch Pushbacks. Es wäre sehr wichtig, mit der Türkei zu einer neuen Einigung zu kommen.“

Knaus sagt, dass bisher kaum erfolgsversprechende Migrationsabkommen geschlossen wurden: „Oft ging es nur um Rückführungen. Es wurde darüber gesprochen, wann etwa Nigeria Tausende Nigerianer, die aktuell in Deutschland sind, schnell zurücknimmt. Ohne attraktive Angebote. Damit war bislang aber kein EU-Land erfolgreich.“ Knaus sieht die Ampel vor der Herausforderung, eine neue Generation von Migrationsabkommen zu verhandeln. Der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen, Joachim Stamp, stehe bereit, diese Arbeit zu machen.

Unterdessen haben die EU und Tunesien am Sonntag Gespräche über ein gemeinsames Abkommen begonnen, das auch die Migration umfassen könnte. Dabei stellte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem nordafrikanischen Land 900 Millionen Euro Hilfsgelder in Aussicht. Diese könnten verfügbar gemacht werden, sobald eine Übereinkunft mit dem Land geschlossen werde, sagte sie. Von der Leyen war gemeinsam mit Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni und dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte nach Tunesien gereist. Das Land, das in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt, ist für die EU ein wichtiger Partner in der Migrationsabwehr.

Den Plänen nach könne die EU Tunesien zusätzlich sofort 150 Millionen Euro Budgethilfe bereitstellen, sagte von der Leyen. Sie bezeichnete den Besuch als „einen wichtigen Meilenstein in der Beziehung“ zu Tunesien. Meloni zufolge könnte das geplante Memorandum noch vor der Sitzung des Europäischen Rates Ende des Monats fertiggestellt werden. Über die Details des angestrebten Abkommens wurde nichts bekannt. Die Presse war bei der Erklärung in Tunis nicht zugelassen.

Neben der finanziellen Unterstützung seinen unter anderem eine Modernisierung des Handelsabkommens der EU mit Tunesien, eine Partnerschaft im Bereich der erneuerbaren Energien und Migrationsthemen besprochen worden, sagte von der Leyen. Beide Seiten hätten großes Interesse, das „zynische Geschäftsmodell von Schmugglern und Menschenhändlern zu brechen“. Man arbeite zusammen an einer „operativen Partnerschaft zur Bekämpfung des Menschenschmuggels“. Die EU werde Tunesien dieses Jahr 100 Millionen Euro für Grenzmanagement und Such- und Rettungsaktionen zur Verfügung stellen.

Tunesiens Präsident Kais Saied hatte am Samstag gesagt, die Migranten seien „Opfer eines weltweiten Systems“, das sie nicht als Menschen, sondern als Zahlen behandele. Tunesien könne nicht, wie einige Länder es gerne sehen würden, „der Wächter ihrer Staaten“ sein.

Meloni sicherte Saied weiter Unterstützung zu, damit Tunesien den 2022 vom Internationalen Währungsfonds zugesagten Kredit über 1,9 Milliarden US-Dollar erhalte. Für die Auszahlung fehlt die Freigabe des IWF-Vorstands. Italien hat sich wiederholt für die Freigabe ausgesprochen, um das nordafrikanische Land zu stabilisieren. Italien erreichten in diesem Jahr so viele über oder aus Tunesien kommende Migranten wie seit Jahren nicht mehr. Im April rief es deshalb einen „Migrationsnotstand“ aus. (mit epd)