Während der Fußball-WM gibt es Millionen Fußballtrainer vor den Bildschirmen, während der Corona-Pandemie waren es gefühlt ebenso viele Virologen. Die jüngsten Turbulenzen bei Banken sollten die Bevölkerung daher ermutigen, sich mit ökonomischen Theorien zu befassen.
Eigentlich sollten Wissenschaftler im modernen Finanzkapitalismus nichts besser verstehen als unser Wirtschafts- und Finanzsystem. In der Welt des aktuellen ökonomischen Mainstreams sind Finanzkrisen jedoch nicht vorgesehen, da der Kapitalmarkt dort effizient ist. Krisen sind hiernach höchst unwahrscheinliche „Black Swans“ (schwarze Schwäne, über die in Europa nichts bekannt war, bis sie in Australien entdeckt wurden), die durch sogenannte externe Schocks bzw. die Politik ausgelöst werden.

Dieser ökonomische Mainstream, der seit der Finanzkrise 2008 etwas in die Defensive geraten ist, war in den Nachkriegsjahrzehnten keineswegs so einflussreich. Er hat sich mit der Entfesselung der Finanzmärkte seit den 1970ern an Universitäten und in Thinktanks zunehmend durchgesetzt. Dabei lief die Theorie der Politik zuweilen voraus – die Ideologie „effizienter“ Märkte war ein wichtiger Grund für den Abbau sinnvoller Regulierungen der Wirtschaft.
Wer in ein traditionelles Lehrbuch der Volkswirtschaft blickt, wird feststellen, dass viele Modelle, die dort vorgestellt werden, wenig mit der ökonomischen Realität zu tun haben. Dies hat Gründe: Geld regiert die Welt. In der Wirtschaft geht es um Interessen. Daher sollte man davon ausgehen, dass auch die „Wirtschaftswissenschaften“ nicht frei von Interessen und Ideologie sind: So verhalf etwa die 1947 am Genfer See gegründete Mont-Pèlerin-Gesellschaft, bei der unter anderem der österreichische Wirtschaftsliberale Friedrich August von Hayek mitwirkte, der Durchsetzung von marktradikalen Ideen, unterstützt vom Geld der Mächtigen. Hayek, der unter anderem die Politik des chilenischen Diktators Augusto Pinochet nach dem Militärputsch begrüßte und den konservativen US-Präsidenten nahestand, war durchaus erfolgreich. Der Zusammenschluss von Akademikern, Geschäftsleuten und Journalisten brachte zahlreiche Mitglieder hervor, die später den von der schwedischen Zentralbank gestifteten Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften erhielten. Auch dieser Preis ist keineswegs „neutral“ oder frei von wirtschaftlichen Interessen – es sollte ursprünglich ein Gegengewicht zur einst starken Sozialdemokratie in den skandinavischen Ländern geschaffen werden.
Die Neoklassik: Der Markt regelt das!
Die mächtigste Wirtschaftstheorie der vergangenen Jahrzehnte ist die Neoklassik. Diese Denkschule, die Lehrbücher und wirtschaftspolitische Debatten geprägt hat, ist neben der sogenannten österreichischen Schule und dem deutschen Ordoliberalismus eine Spielart des Wirtschaftsliberalismus. Im Unterschied zu den anderen Denkschulen ist die Neoklassik aber bemüht, einen unpolitischen Eindruck zu erwecken, der sich auf Modelle und Mathematik stützt. Tatsächlich bezeichnete sich der bedeutende neoklassische Ökonom Léon Walras, der als Urheber des allgemeinen Gleichgewichtsmodells gilt und für Landreformen stritt, sogar als Sozialist. Und so wie heute der ökonomische Mainstream über seine Pfründe wacht, beklagte Walras einst, dass die französischen Lehrstühle nur mit orthodoxen Ökonomen besetzt und durch Vetternwirtschaft weitergegeben würden.
Nicht wenige Ökonomen, die staatliche Eingriffe in Märkte befürworten, würden es heute wohl ähnlich sehen. So forscht etwa die Ökonomin und China-Expertin, Isabella M. Weber, die aus der ökonomischen Zunft für ihre Forderung nach einem Gaspreisdeckel zunächst hart attackiert wurde, in den USA und nicht in Deutschland. Sie beriet die Bundesregierung und wurde von Bloomberg zu einer der einflussreichsten Personen des vergangenen Jahres gekürt.
Dies ist kein Zufall. Bereits während meines Studiums der Volkswirtschaft erklärte mir ein Professor, welcher der keynesianischen Wirtschaftstheorie nahestand, dass er auch für seine besten Doktoranden kaum noch Betreuer fände, da die meisten Lehrstühle von Neoklassikern besetzt seien und diese in Deutschland kaum abweichende Forschungsprogramme dulden. Er schicke seine Doktoranden daher ins Ausland. Die keynesianische Idee, dass eine Stabilisierung der Nachfrage (durch öffentliche Investitionen oder hinreichende Löhne) in einer kapitalistischen Marktwirtschaft erforderlich sei, um Krisen und Arbeitslosigkeit zu verhindern, hat sich kürzlich erst wieder bestätigt. Ohne Kurzarbeitergeld und hohe staatliche Ausgaben wäre es in der Pandemie zu Massenarbeitslosigkeit gekommen.

Ist die Neoklassik eine Wissenschaft?
Tatsächlich darf jedoch bezweifelt werden, ob die Neoklassik, die sich über vermeintlich „unpolitische Methoden“ wie der Grenzproduktivitätstheorie (dazu mehr in Teil 2 der Serie Wirtschaftsmärchen) definiert, grundlegenden Ansprüchen an Wissenschaftlichkeit genügt. Warum daran erhebliche Zweifel bestehen, hat der Professor für Volkswirtschaft, Fabian Lindner, vor einigen Jahren in einem lesenswerten Beitrag für Die Zeit analysiert.
Die Krux an der Neoklassik ist, dass die Annahmen häufig so unrealistisch sind, dass sie sich gar nicht überprüfen lassen. Wenn die Theorie scheitert, wird behauptet, dies läge daran, dass die (unmöglichen) Bedingungen der Modelle nicht erfüllt waren. Oder anders: Wenn sich die reale Welt nicht verhält wie das Modell, ist nicht das Modell mit seinen weltfremden Annahmen schuld, sondern die Welt, die (noch) nicht sein will, wie das Modell. Den Ökonomen Milton Friedman verleitete dies gar zu der Aussage je bedeutender die Theorie, desto unrealistischer ihre Annahmen.
Was nicht passt, wird passend gemacht!
Die Aufgabe der neoklassischen Denkschule ist es nicht etwa die Wirklichkeit zu erklären, sondern vielmehr mathematisch-komplexe Modelle zu entwerfen, die am Ende zum mechanischen Ergebnis führen, dass der Markt über den Preis das meiste regelt und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft zumeist schädlich sind. Die in sich mehr oder minder schlüssigen Modelle fußen jedoch zuweilen auf unrealistischen Annahmen. Frei nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht.
Im Zentrum der neoklassischen Theorie steht nämlich, dass sich der Preis als Signal der Knappheit aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage ergibt. Der Preis wirkt dann als Anreiz – ein hoher Preis senkt die Nachfrage bei knappem Angebot, ein niedriger Preis erhöht die Nachfrage bei reichlich vorhandenem Angebot.
Doch ist die Welt so einfach? Es wird etwa bei der Bekämpfung des Klimawandels zumeist darauf abgestellt, dass es nur die korrekte Bepreisung von Energie und Rohstoffen (zum Beispiel höhere Benzinpreise) bräuchte. Dabei ist die Realität für viele Menschen, dass sie einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr brauchen, um auf das Auto verzichten zu können. Der entsteht aber nicht von allein, sondern erfordert eine öffentliche Infrastruktur bzw. Gemeinschaftsgüter. Höhere Preise reduzieren sonst vielleicht die Kaufkraft, aber ein Berufspendler, der sich die Miete in der Innenstadt nicht leisten kann, wird dennoch kaum auf das Auto verzichten (können), während den Besserverdiener höhere Preise kaum jucken. Die Anreizwirkung des Preises aus der Theorie würde in der Praxis nicht funktionieren.
Doch selbst wenn man die Annahmen der neoklassischen Modelle akzeptiert, sind diese nicht einmal immer in sich mathematisch widerspruchsfrei. Dies beginnt schon bei so schlichten Dingen wie dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Ein Beispiel: In den Modellen über Angebot und Nachfrage wird vollständiger Wettbewerb unterstellt. Dies bedeutet, dass auf dem Gütermarkt eine unendliche Zahl kleiner Firmen produziert. Keine davon hat gemäß den klassischen Lehrbüchern individuell Einfluss auf den Marktpreis. Dabei wird unterstellt, dass eine Ausweitung des Angebots durch eine Firma nicht zu Reaktionen der anderen Firmen führt. Wenn aber eine Firma das Angebot an Waren erhöht, auch nur mit einer sehr kleinen Menge, und andere Firmen nicht reagieren und ihr daher ihr Angebot nicht verringern, muss gemäß den Modellen und des Gesetzes von Angebot und Nachfrage bei unveränderter Nachfrage eigentlich der Preis sinken. Da die einzelne Firma und Produktionsmenge im Verhältnis zum gesamten Markt, jedoch klein ist, wird dieser sehr kleine Einfluss in den Modellen einfach als unendlich klein wegdefiniert.
Das Problem dabei ist: Was für eine Firma zulässig erscheint, ist für einen ganzen Markt mit einer unendlichen Anzahl kleiner Firmen keineswegs zulässig. Dies nennt man das Aggregationsproblem. Denn auch wenn man eine sehr kleine Menge, die nur unter dem Mikroskop sichtbar ist, mit unendlich multipliziert, kommt dabei nicht null heraus. Der australische Ökonom, Steve Keen, der als einer der Wenigen die Finanzkrise 2008 korrekt vorhersagte, weist darauf hin, dass dies dramatische Auswirkungen auf die Stabilität des Gleichgewichts hat, aber vom ökonomischen Mainstream ignoriert wird, obwohl es unsaubere Mathematik ist.
Wie die Neoklassik versucht, sich zu retten
Im Laufe der Jahrzehnte wurden zwar einige der Annahmen der Modelle etwas entspannt, um Kritik zu begegnen. So unterstellen die idealistischen Modelle etwa vollständige Information und die Abwesenheit relevanter Transaktionskosten. Mit anderen Worten: Wenn der Döner in Marzahn billiger ist als Spandau, bekommen die Berliner Döner-Esser das nicht nur mit, sondern sie können sich diesen ohne weitere (Fahrt-)Kosten besorgen und so den Döner-Laden in Spandau zur Preisanpassung zwingen. Das Internet macht zwar viele Preise besser vergleichbar, aber auch dort entstehen derzeit mächtige Konzerne wie Amazon und Google mit enormer Marktmacht.
Ein anderes Beispiel ist die Verhaltensökonomik, die etwas realistischere Annahmen über die Verhaltensweisen von Menschen eingeführt hat. So wird etwa die Behauptung, Menschen würden sich immer nutzenmaximierend und rational verhalten, bei jedem Ehestreit widerlegt. In der Realität werden mittlerweile an etlichen Universitäten sogenannte neukeynesianische Modelle oder die neoklassische Synthese gelehrt, die vereinfacht gesprochen akzeptieren, dass Märkte in der kurzen Frist Störungen unterliegen können und die Stimulierung der öffentlichen und privaten Nachfrage (z.B. durch Staatsausgaben) sinnvoll sein kann. In der längeren Frist würden aber wieder die Gesetze der Neoklassik und effizienter Märkte gelten.
Die Vereinbarkeit mit den Kernbotschaften und Methoden der Neoklassik sind auch ein entscheidendes Kriterium dafür geworden, ob Beiträge von Wissenschaftlern in renommierten Journalen veröffentlicht oder Professuren erteilt werden. Denn auch etliche wissenschaftliche Gutachter sind Neoklassiker. So bemerkte der Träger des sogenannten Wirtschaftsnobelpreises, Joseph Stiglitz, der ein Kritiker des Mainstreams ist, jedoch seine Kritik weitgehend innerhalb der neoklassischen Synthese formulierte, er hätte andernfalls keine akademische Karriere gemacht. Stiglitz wurde etwa mit seiner Arbeit über Informationsasymmetrien bekannt, die mit den Annahmen vollständiger Information aller Marktteilnehmer bricht.
Religion oder Wissenschaft?
Der renommierte südkoreanische Ökonom an der Universität Cambridge, Ha Joon Chang, vergleicht die Neoklassik und ihre ökonomischen Konzepte mit Priestern und Mönchen im Mittelalter, die häufig zu den wenigen Menschen gehörten, die Lesen und Schreiben konnten. Diese Kaste würde ökonomische Interessen hinter einer komplizierten Sprache verstecken, um den Menschen dann die „korrekte Interpretation“ der Bibel nachzuliefern und ihnen einzureden, dass Ökonomie nur etwas für Ökonomen sei. Die einfache Bevölkerung soll sich an den Glauben und die Priester halten, die sich mit der Theologie auskennen.
Tatsächlich gibt es erstaunliche Parallelen der Neoklassik zur Religion: Investitionen erfordern in dieser Theorie immer erst Ersparnis durch Verzicht auf Konsum. Ähnlich wie man im Paradies für ein sündenfreies Leben entlohnt wird oder mit Opfergaben am Altar Gott besänftigen musste (in Wahrheit hat man die Priester mit Opfergaben durchgefüttert). Mit dem Unterschied, dass es in der Neoklassik für die Mehrheit der Menschen kein Paradies gibt. Der Verzicht muss ständig geübt werden, um wieder neue Investitionen zu ermöglichen.





