Russland droht ein neuer Konflikt im Südkaukasus: Zwischen Armenien und Aserbaidschan ist es am Montag zu schweren militärischen Auseinandersetzungen gekommen. Bei Kämpfen im Grenzgebiet sind nach Angaben des armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan mindestens 49 armenische Soldaten getötet worden. Dem Verteidigungsministerium in Eriwan zufolge versuchten aserbaidschanische Truppen, auf armenisches Gebiet vorzustoßen. Die aserbaidschanische Armee setze Artillerie und Drohnen gegen militärische und zivile Ziele nahe der Grenze ein. Aserbaidschan warf Armenien „groß angelegte subversive Handlungen“ in Grenznähe und Beschuss seiner Militärstellungen vor. Unter anderem sollen Spezialeinheiten des armenischen Geheimdienstes Minen auf dem Territorium von Aserbaidschan verlegt haben. Das russische Außenministerium erklärte am Dienstag laut der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass, Moskau habe eine Waffenruhe vermittelt und erwarte nun, dass sich beide Seiten an die Vereinbarungen halten und auf jedwede militärische Handlungen verzichten würden. Moskau sei „extrem besorgt“ über die Lage im Grenzgebiet. US-Außenminister Antony Blinken sagte in einer Stellungnahme, Washington sei „zutiefst besorgt über Berichte über Angriffe entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, einschließlich gemeldeter Angriffe auf Siedlungen und zivile Infrastruktur in Armenien“.
Der ewiger Konflikt mit vielen zivilen Opfern
Die New York Times zitiert namentlich nicht genannte „Militärexperten“, denen zufolge Aserbaidschan durch die „jüngsten Rückschläge Russlands im Nordosten der Ukraine“ ermutigt worden sein könnte, eine Attacke gegen Armenien zu lancieren. Der demokratische US-Politiker Adam Schiff sprach von einer Aggression Aserbaidschans gegen unschuldige Zivilisten in Armenien und forderte einen „dauerhaften Stopp jedweder US-Unterstützung für Aserbaidschan“. Wie es zur Eskalation gekommen ist, ist unabhängig nicht zu beurteilen. Nach einem ersten Krieg in den 90er-Jahren hatten sich Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 erneut einen Krieg um die umstrittene Region Bergkarabach geliefert. Bei den sechswöchigen Gefechten wurden etwa 6500 Menschen getötet, bis die Kämpfe durch ein von Russland vermitteltes Waffenstillstandsabkommen beendet wurden. Dabei musste Armenien große Gebiete aufgeben. Anfang August war die Gewalt erneut aufgeflammt. Russland unterhält einen Militärstützpunkt in Armenien und hat einige Hundert Soldaten als Friedenssicherungsmission in die Grenzregion um Bergkarabach geschickt. Diese wurden am Dienstag in höchste Alarmbereitschaft versetzt.
Während Russland versucht, mit beiden Seiten einen Modus Vivendi zu finden, unterstützt die Türkei Aserbaidschan direkt militärisch. Den Sieg über Armenien im Jahr 2020 verdankt Aserbaidschan dem Einsatz von türkischen Kampfdrohnen der Firma Bayraktar. Diese Drohnen liefert Ankara auch an die Ukraine, um sich gegen den Angriff Russlands zu verteidigen. Das Nato-Land Türkei unterhält enge Beziehungen zu Russland, verfolgt jedoch in Aserbaidschan eine geopolitische Agenda, mit der sich Präsident Recep Tayyip Erdogan als Schutzherr aller Muslime auf der Welt positionieren will.
Öl- und Gaslieferungen: Kommt ein weiterer Energiekonflikt auf uns zu?
Ein Konflikt um Aserbaidschan könnte auch die europäische Energieversorgung gefährden, insbesondere wenn die US-Regierung gegen das Land Sanktionen verhängt. Im Juli hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Abkommen mit Präsident Ilham Aliyev unterzeichnet, wonach Aserbaidschan jährlich bis zu 20 Milliarden Kubikmeter Gas an die EU-Staaten liefert. Zuvor hatte die EU beschlossen, komplett aus dem Bezug von russischem Gas auszusteigen. Erst am Montag hatte Aserbaidschan bekannt gegeben, man werde seine Erdgasexporte nach Europa in diesem Jahr um 30 Prozent steigern, um die ausbleibenden Lieferungen aus Russland zu ersetzen. Der aserbaidschanische Energieminister Parviz Shahbazov sagte, dass Baku in den ersten acht Monaten dieses Jahres „7,3 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Europa geliefert“ habe. Insgesamt sollen es im Jahr 2023 etwa zwölf Milliarden Kubikmeter sein, die nach Europa geliefert werden, sagte Shahbazov auf Twitter.

