Istanbul. Was Armeniens Präsident Nikol Paschinjan in der Frühe am Dienstag den Abgeordneten des armenischen Parlaments vortrug, klang äußerst dramatisch. In der Nacht zum Dienstag, so der armenische Staatschef, habe die Armee Aserbaidschans an sieben Orten die Grenze Armeniens mit großkalibriger Artillerie angegriffen. Dabei seien 49 armenische Soldaten umgekommen.
Viele internationale Journalisten, darunter aus Armenien, haben ähnlich berichtet. Militäreinheiten Aserbaidschans hätten das Feuer mit Artillerie und Drohnen auf Armenien eröffnet, und zwar auf das international anerkannte Territorium Armeniens.
❗️Military units of Azerbaijan have opened fire with artillery and drones on Armenia. This takes place on the internationally recognized territory of Armenia itself, outside of disputed Karabakh. A major escalation by Baku. https://t.co/Z6hmgwI1rW
— Neil Hauer (@NeilPHauer) September 12, 2022
Diese Angaben lassen sich unabhängig nicht überprüfen. Doch wie ernst die Lage ist, zeigt die Reaktion des amerikanischen Außenministers Antony Blinken nach einem Telefonat mit dem armenischen Präsidenten am Dienstagmorgen. Blinken äußerte seine „tiefe Besorgnis“. Der US-Chefdiplomat rief dazu auf, eine „weitere Eskalation“ zu vermeiden und „die Situation zu stabilisieren“.
Droht militärischer Großkonflikt mit Türken und Russen?
Der Hintergrund der Eskalation ist bekannt. Unterdessen versucht Armenien, die Unterstützung seines Verbündeten Russland zu gewinnen. Aserbaidschan dagegen bemüht sich um die Rückendeckung der Türkei. Droht nun ein militärischer Großkonflikt unter Beteiligung von Türken und Russen? Das ist zwar wenig wahrscheinlich, aber die Gefahr einer Eskalation des Konfliktes wächst. Es kommt erneut zu Gewalt an der Grenze.
Im Grunde genommen sind die Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan an der Grenze eine Fortsetzung des Krieges beider Länder um die Provinz Bergkarabach. Dort hatten bewaffnete armenische Kräfte 1991 im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion in einem Sezessionskrieg eine international nicht anerkannte Republik als Teil Armeniens proklamiert. Aserbaidschan beansprucht das Gebiet völkerrechtlich für sich.
In einem ersten Krieg 1992 bis 1994 hatte sich die Republik Bergkarabach dann militärisch behauptet, mit Unterstützung Armeniens. Mehrere Zehntausend Menschen kamen in dem seit 1988 eskalierenden Konflikt um, Hunderttausende flüchteten und wurden vertrieben. 1994 wurde mithilfe Russlands ein Waffenstillstand vereinbart, der sich als brüchig erwies.
In den Jahrzehnten nach dem ersten Krieg um Karabach, das die Armenier Arzach nennen, kam es an der Demarkationslinie immer wieder zu blutigen Gefechten mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten. Ende September 2020 begann Aserbaidschan eine Offensive gegen die als „separatistisch“ bezeichneten Kräfte in Bergkarabach.
Mit Panzern, Artillerie, Luftwaffe und Drohnen gelang es den Aserbaidschanern, einen großen Teil von Bergkarabach einzunehmen. Die aserbaidschanischen Streitkräfte rückten bis Anfang November 2020 dicht an die Landeshauptstadt Stepanakert heran. Am 10. November trat ein von Russland vermittelter Waffenstillstand in Kraft. Russische Friedenstruppen besetzten dabei Positionen zwischen den beiden Konfliktparteien. Im Krieg im Herbst 2020 kamen insgesamt etwa 6500 Menschen ums Leben.
Der militärische Erfolg Aserbaidschans ist auch durch massive türkische Unterstützung möglich geworden, vor allem durch türkische Drohnen. Ihnen hatten die Armenier nichts entgegenzusetzen.
Türkei und Aserbaidschan: Ewige Bruderschaft?
Wozu der ganze historische Exkurs? Dass Aserbaidschan im Konflikt mit Armenien auf die Hilfe der Türkei setzen kann, zeigt ein Telefongespräch zwischen dem türkischen Verteidigungsminister Hulusi Akar und seinem aserbaidschanischen Kollegen Zakir Hasanow am 13. September. Dabei sagte der türkische Verteidigungsminister laut der aserbaidschanischen Nachrichtenagentur APA, die Türkei werde „immer Aserbaidschan beistehen“.
Wie eng die militärischen Kontakte der Türken und der Aserbaidschaner sind, hatte ein Besuch des türkischen Generalstabschefs Yasar Güler Anfang September in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku gezeigt. Wenige Tage zuvor hatten sich der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew und Verteidigungsminister Hasanow zu einem „Arbeitsbesuch“ in der „brüderlichen Türkei“ aufgehalten, berichtet die APA. Demnach nehmen derzeit aserbaidschanische Militärs in der Türkei an einem gemeinsamen Training teil. Der Name der Übung: „Ewige Bruderschaft 1“.
Auf verbündete Brüder setzt auch die armenische Führung. Armenien ist Mitglied in der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS), die faktisch von Russland geführt wird. Armeniens Präsident Paschinjan wandte sich wegen des bewaffneten Grenzkonfliktes an den Ständigen Rat der OVKS. Gleichzeitig sprach Armeniens Verteidigungsminister Suren Papikjan mit dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu über die Lage.
Schoigu stellte vage Schritte zu „Stabilisierung der Lage“ in Aussicht – nicht mehr. Dass in Moskau keine Neigung besteht, sich von Armenien in einen Krieg mit Aserbaidschan treiben zu lassen, machte der russische Militärexperte Igor Korotschenko deutlich, Chefredakteur des Fachblattes Nazionalnaja Oborona (Nationale Verteidigung).
Korotschenko, der für seine Nähe zum russischen Generalstab bekannt ist, wies darauf hin, der Grenzverlauf zwischen Armenien und Aserbaidschan sei von beiden Seiten nicht einvernehmlich festgelegt. Aserbaidschan habe ein „Recht auf Selbstverteidigung“. Die Politik der armenischen Führung, so Korotschenko, zeichne sich durch „Revanchismus, Drohungen und Provokationen“ aus.
Russland kann sich die Einmischung nicht leisten
Das wenig schmeichelhafte Bild vom armenischen Verbündeten, das der Moskauer Militärexperte zeichnet, entspricht wohl der strategischen Linie des Kreml, sich nicht in einen militärischen Konflikt mit Aserbaidschan zu begeben. Dafür gibt es aus russischer Sicht mehrere Gründe: den geringen militärischen Wert, den die armenischen Verbündeten für Moskau haben, die wirtschaftliche Bedeutung Aserbaidschans und das Bestreben Moskaus, die Türkei nicht zu reizen.
Diese Argumente gewinnen in Moskau allerdings an Gewicht angesichts der jüngsten militärischen Misserfolge der russischen Armee in der Ukraine. Die Position des Kreml dürfte ungefähr so sein: Einen weiteren Krieg am Südrand seines „Imperiums“ kann Russland heute weniger gebrauchen denn je. Zudem gibt es zwischen dem Präsident Wladimir Putin und seinem aserbaidschanischen Kollegen Alijew seit vielen Jahren einen Konsens, wie ein ehemaliger Mitarbeiter der Moskauer Präsidentenadministration in einem vertraulichen Gespräch mit dem Autor dieses Textes versichert: Aserbaidschan werde sich bei militärischen Schritten stets auf das von ihm beanspruchte Gebiet Karabach beschränken. Es werde kein Territorium der Republik Armenien besetzen.







