Am heutigen Dienstag sollen die EU-Energieminister erneut über den Gaspreisdeckel beraten. Der aktuell zu besprechende Vorschlag der EU-Kommission impliziert, dass der Erdgaspreis an der Gasbörse in Rotterdam beschränkt wird, wenn er über zwei Wochen bei über 275 Euro pro Megawattstunde liegt und gleichzeitig mindestens 58 Euro höher ist als die Weltmarktpreise für Flüssigerdgas oder LNG. Eine schnelle Einigung ist nicht in Sicht. Am Vortag konnten sich die EU-Mitgliedstaaten auch noch nicht über das neunte Sanktionspaket gegen Russland einigen.
Russisches Gas hat die EU aber anders als Öl oder Kohle bisher nicht sanktioniert: Der Verzicht erfolgte nach dem russischen Angriff auf die Ukraine freiwillig und wurde mit dem Stopp der Gaslieferungen durch Russland besiegelt. Aber ist diese „Gasscheidung“ für immer eingetreten?
Kann Europas Energiebrücke nach Russland jemals wieder aufgebaut werden?
Bloomberg schließt das Gegenteil nicht aus. Die führende US-amerikanische Nachrichtenagentur veröffentlichte eine Analyse zu der Frage, ob Europas Energiebrücke nach Russland jemals wieder aufgebaut wird.
Der Autor Javier Blas bezieht sich dabei auf ein Branchentreffen, das letzte Woche vom Oxford Institute for Energy Studies organisiert wurde. Eine Menge von Führungskräften, politischen Entscheidungsträgern und Beratern wurde demnach gefragt, ob die EU Russland wieder zu ihrem wichtigsten Gaslieferanten machen würde. Eine Strohumfrage wies eine Aufteilung von 40 zu 40 Prozent auf, der Rest war unentschieden. Der Autor selbst geht von einer Wiederaufnahme der Gasbeziehungen auch in dem Fall aus, dass Wladimir Putin im Kreml bleibt. Die Realitäten der Geografie und der Märkte könnten selbst die entschlossensten politischen Entscheidungsträger übertrumpfen, argumentiert Javier Blas.
Internationale Energieagentur geht von komplettem Gas-Stopp aus Russland bis 2028 aus
Noch kommt in der EU etwas Gazprom-Gas über die Ukraine an. Auch russisches LNG, geliefert vom weniger berüchtigten privaten Unternehmen Nowatek, ist nicht ganz bedeutungslos in der EU. Die Internationale Energieagentur (IEA), eine autonome Forschungseinheit der OECD, hat in einem Szenario zwar entworfen, dass die russischen Gasflüsse nach Europa bis 2025 auf ein Rinnsal und bis 2028 auf null sinken werden, ersetzt durch LNG-Importe und eine höheren Produktion aus Solar- und Windparks. Den Bruch des russisch-europäischen Gashandels schätzt die IEA als „dauerhaft“ ein. Auch die EU-Beamten zeigten sich unnachgiebig, was die Lehre aus dem Ukraine-Krieg angehe, erinnert Bloomberg.
Doch auf nationaler und Landesebene gebe es mehr Differenzen. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sagte im November beim Besuch von Klimaschutzminister Robert Habeck in Sachsen, dass es „historisch ignorant und geopolitisch falsch“ wäre, für immer auf russisches Gas zu verzichten. Es sollte nach dem Krieg wieder verwendet werden, so Kretschmer. Der FDP-Mann Wolfgang Kubicki hatte auch bis zu den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines dazu aufgerufen, Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen. Die Maßnahme sollte die Gaspreise dämpfen. Nach den Anschlägen ist nur ein Strang der Nord Stream 2 noch intakt.

Für viele Politiker zähle der Gaspreis, argumentiert Bloomberg weiter. Deutsche Gasimporteure zahlen derzeit an der Börse 140 Euro pro Megawattstunde für die Gasimporte, fast siebenfach so viel wie im Durchschnitt zwischen 2010 und 2020. Um Verbraucher und Unternehmen zu entlasten, gibt die Bundesregierung Subventionen in Milliardenhöhe aus.
Gasexporte nach Europa für Reparationszahlungen?
Dass ein vorerst unwahrscheinlicher Comeback wahrscheinlich werden könne, zeige die Öl-Geschichte mit dem Irak, verweist Bloomberg. Die Vereinten Nationen verhängten etwa nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait 1990 ein vollständiges Ölembargo gegen den Irak, die USA bestanden selbst nach der militärischen Niederlage des damaligen Präsidenten Saddam Hussein auf der Aufrechterhaltung des Embargos, damit Hussein keinen weiteren Krieg führen könnte. 1996 hoben die USA und die UN das Embargo jedoch auf und ersetzten es durch das UN-Programm „Öl für Lebensmittel“, das dem Irak erlaubte, Erlöse aus dem Verkauf von Rohöl für humanitäre Zwecke zu verwenden. Deutsche Unternehmen konnten Berichten zufolge gut vom UN-Programm profitieren. Bis 2001 importierten auch die USA so viel irakisches Rohöl wie Anfang 1990 – während Saddam in Bagdad an der Macht blieb.
In gewisser Weise könnte Kiew nach dem Krieg durchaus darauf bestehen, schreibt Bloomberg weiter, dass Europa russisches Gas über die Ukraine kauft. Als Teil eines Friedensabkommens werde Russland den Wiederaufbau der Ukraine finanzieren müssen. Um diese Reparationskosten zu bezahlen, könnte Russland wie der Irak damals wieder mehr fossile Brennstoffe nach Europa verkaufen. Fakt ist auch, dass die Ukraine sich selbst Monate nach dem Krieg bereit erklärte, mehr russisches Gas nach Europa zu liefern – allerdings für die vorteilhaften Transitgebühren.
Was der Bloomberg-Autor jedoch unterschätzt: Die Ölimporte aus dem Irak waren im Interesse der USA, während die russischen Gasimporte nach Europa jahrzehntelang dem Druck der USA ausgesetzt waren. Eine Akzeptanz der militärischen Niederlage durch Putin wird auch angenommen, damit russisches Gas in der EU wieder eine Chance bekommt. Das Ende des Ukraine-Kriegs ist aber noch nicht in Sicht. In dieser Hinsicht hat der Bloomberg-Bericht eher einen spekulativen Charakter.
Ganz unpragmatisch ist er nicht. Zum Schluss tendiert der Autor zu der Meinung, dass Europa wahrscheinlich nie wieder zu den gleichen Langfristverträgen mit Russland zurückkehren und dank erneuerbarer Energien mit der Zeit weniger Gas importieren werde. „Aber wenn es seine Chemie-, Lebensmittel- und Schwerindustrie wettbewerbsfähig halten will, braucht es billiges Gas. Und für Europa gibt es kein billigeres Gas als aus Russland“, heißt es.



