Am Sonnabend ist das geschehen, was viele schon befürchtet, vorhergesehen oder gewollt haben: Gazprom stellte den Gastransport über Nord Stream 1 für eine unbestimmte Zeit ein. Doch es scheint wie eine Entscheidung für die Ewigkeit.
Ein Ölleck bei einer verbliebenen und einigen bereits ausgeschalteten Gasturbinen sei der Grund, erklärte der russische Staatskonzern. Siemens Energy, der Hersteller der Turbinen, müsse die Mängel vorerst beheben. Siemens Energy streitet das Problem zwar nicht ab, hält es jedoch für einen unglaubwürdigen Grund für den Lieferstopp. Solche „Leckagen“ könnten vor Ort abgedichtet werden, teilte der Konzern mit. Gazprom widerspricht: Es gebe dafür keinen „Reparaturort“.
#Gazprom teilt mit: @Siemens_Energy erkenne die “Mängel” bei Turbinen an (Ölleck), sei bereit, sie zu beheben. Aber es gebe dafür keinen geeigneten “Reparaturort”. Und ein Beweisfoto.🧐 Die Botschaft dahinter: Es wird keinen Gastransport über #Nordstream1 geben. @berlinerzeitung pic.twitter.com/VxrBXSzTBs
— Liudmila Kotlyarova (@mila_cotle) September 3, 2022
Fazit: Es wird offensichtlich kein russisches Gas mehr über Nord Stream 1 nach Deutschland fließen. Von rund 42 Millionen Kubikmetern Gas aus dem Ukraine-Transit kommen laut der Bundesnetzagentur kaum noch vier Millionen Kubikmeter Gas im bayerischen Weidhaus an (Stand: Sonntag). Also: So gut wie nichts.
Euro auf Rekordtief, Gaspreise auf dem Spotmarkt um 30 Prozent gestiegen
Die Folgen? Der Euro ist auf einen Wert von 0,988 US-Dollar gefallen – der tiefste Stand seit 2002. Die Gaspreise an der internationalen Energiebörse ICE Futures sind seit Freitag von 2213 auf 2900 Dollar pro 1000 Kubikmeter gestiegen oder etwa 290 US-Dollar pro Megawattstunde – ein Plus von 30 Prozent. Diese Preise gelten für den Spotmarkt, nicht für langfristige Verträge, wie es mit Gazprom der Fall ist. Deutschlands Gas-Deal mit Katar ist bisher nicht vorangekommen, weil Katar 20 Jahre Mindestlieferfrist will und Deutschland Gas nur als Brückentechnologie sieht.
Deutsche Gasimporteure sind weiterhin darauf angewiesen, die Gasspeicher verstärkt mit dem Erdgas vom Spotmarkt oder mit dem Flüssiggas (LNG) zu füllen. Und sie werden weiter steigende Preise zahlen müssen, um die Speicher zu füllen. Denn das Gas in deutschen Speichern reicht für maximal drei Monate, nicht für die gesamte Heizsaison vom 1. Oktober bis 30. April.
Olaf Scholz: Russland ist kein zuverlässiger Energielieferant mehr
Hiermit ist die Hoffnung des Wirtschaftsministers Robert Habeck (Grüne) passé, der darauf spekuliert hatte, dass die Gasmärkte sich etwas entspannen und die Gaspreise sinken würden, weil Deutschlands Speicher so gut gefüllt sind (derzeit sind es etwa 85 Prozent). Auf der Pressekonferenz zum dritten Entlastungspaket am Sonntag wirkte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Blick auf Moskau entschlossen. Putins Russland sei vertragsbrüchig geworden, so Scholz, und erfülle seine Lieferverträge lange nicht mehr. „Etwas, was selbst im Kalten Krieg gegolten hat, gilt nicht mehr. Russland ist kein zuverlässiger Energielieferant mehr.“
Die Erklärung des Bundeskanzlers ist zwar nicht neu, sorgt aber dennoch für Reaktionen in Russland. Der einst liberale Ex-Präsident und Ex-Ministerpräsident Russlands, nun der stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation (eine Art Politbüro 2.0), Dmitri Medwedew, tritt zuletzt öfter als Sprachrohr der russischen Politik auf. Deutschland sei das Land, das sich „unfreundlich“ gegenüber Russland verhalte, antirussische Sanktionen verhängt habe und „tödliche Waffen“ an die Ukraine liefere, schrieb Medwedew zu Scholz’ Erklärung. „Mit anderen Worten: (Deutschland) hat Russland einen hybriden Krieg erklärt. Deshalb wirkt Deutschland wie Russlands Feind“, schrieb der 56-Jährige weiter auf Telegram. Und „dieser Onkel“, fügte Medwedew mit Blick auf Scholz hinzu, sei noch überrascht, dass die Deutschen „einige Probleme“ mit Gas hätten.
Kremlsprecher Dmitri Peskow reagierte zwar weniger emotional, untermauerte aber die russischen Kernthesen. Nord Stream 1 werde den Betrieb wieder aufnehmen, sobald die Sanktionen aufgehoben worden seien, sagte Peskow auf einer Pressekonferenz am Montag. Zu stark ist die Versuchung, diese Erklärung als ein Schuldbekenntnis des Kremls zu interpretieren. Peskow fügte jedoch hinzu: Es seien die westlichen Sanktionen, die die Wartung der Gasturbinen und rechtliche Garantien verhindern würden. „Es sind diese von den westlichen Staaten verhängten Sanktionen, die die Situation zu dem gebracht haben, was wir jetzt sehen“, wiederholte Peskow, ohne den Ukraine-Krieg auch nur mit einem Wort zu erwähnen.
„Deal des Jahrhunderts“ begraben
„Russland und Deutschland haben mit einem kompletten Gasscheidungsprozess begonnen“, schreibt die unabhängige Zeitung Nesawissimaja Gaseta dazu. Die vor 52 begonnene erfolgreiche Gaskooperation zwischen Russland und Deutschland sei faktisch beendet worden – mit den Abschlusserklärungen der „Scheidungsparteien“ in diesen Tagen. Im Februar 1970 hatten die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland ein langfristiges Abkommen über den Bau einer Gaspipeline nach Westeuropa und die Lieferung von russischem (sowjetischem) Gas unterzeichnet. Dieses Abkommen wurde als „Deal des Jahrhunderts“ gefeiert, das größte in der Geschichte der sowjetisch-deutschen und russisch-europäischen Abkommen, das zudem trotz des Widerstands seitens der USA zustande gekommen war. „Die Amerikaner können nun beruhigt sein, was die russisch-deutsche Wirtschaftskooperation angeht“, schließt die russische Zeitung bitter ab. Die Kooperation im Gassektor ist zumindest so gut wie nicht mehr existent.
Wie geht es weiter nach der „Scheidung“?
Die Bundesregierung unterstützt Alternativen zu russischem Gas und unterstützt die Gasimporteure mit der viel kritisierten und noch nicht geänderten Gasumlage, die alle drei Monate angepasst werden kann. Norwegen, ein für Bundeskanzler Scholz „verlässlicher Lieferant“, sicherte Deutschland Mitte August zwar weitere Gaslieferungen zu Marktpreisen zu, kann sie aber nach eigenen Worten nicht ausweiten.
Der größte Gasimporteur Deutschlands, Uniper, will in einem halben Jahr das erste LNG-Terminal in Wilhelmshaven fertig gebaut haben. Uniper hat an diesem Montag mit der Tochterfirma des australischen Energiekonzerns Woodside Energy, der Woodside Energy Trading Singapore, einen langfristigen Vertrag über „die flexible Lieferung“ von LNG nach Deutschland und Europa ab Januar 2023 abgeschlossen. Woodside Energy soll laut der Uniper-Mitteilung eine Milliarde Kubikmeter Erdgas im Normalzustand jährlich bis 2039 nach Europa liefern.
Der russische Energieriese Gazprom seinerseits meldete bereits im August eine Reduzierung der Gasproduktion um 13,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Exporte seien dabei um 36 Prozent gesunken. Zusätzliche Gaslieferungen nach Ungarn über die Pipeline Turkish Stream gelten zwar als politischer Erfolg, sind jedoch wirtschaftlich eher irrelevant für Gazprom.
Man will China als Kunden Nummer eins gewinnen. Die Gaslieferungen nach China über die Pipeline Kraft Sibiriens seien bis Juli 2022 um rund 61 Prozent gestiegen, betonen die PR-Leute des Energiekonzerns. Im Jahresverhältnis müssten es 2022 allerdings nur knapp 17 Milliarden Kubikmeter Gas werden. Dies ist keine ernsthafte Alternative, wenn man bedenkt, dass Gazprom 2021 allein über Nord Stream 1 rund 60 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Europa exportierte.
Um die Liefermengen nach China zu steigern, baut Gazprom seit Juli diesen Jahres eine neue Gasleitung, Kraft Sibiriens 3, mit einer deutlich niedrigeren Lieferkapazität als erwartet, nämlich nur zehn Milliarden Kubikmeter im Jahr. Der Bau der längst geplanten Pipeline Kraft Sibiriens 2 über die Mongolei nach China lässt noch auf sich warten und könnte frühestens 2030 abgeschlossen werden. Diese Pipeline könnte zwar bis zu 50 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich ins Land der Mitte liefern, doch die Verträge müssen erst unterschrieben werden.
Die ungenügenden Exportmengen versucht Gazprom mittlerweile durch eine expansive Erweiterung der Gasversorgung der russischen Regionen zu kompensieren. „Russland ist bereits für 100 Jahre mit Gas versorgt“, scherzte der Gazprom-Chef Alexei Miller Ende August. Laut einer Analyse der norwegischen Beratungsfirma Rystad Energy verbrennt Gazprom darüber hinaus täglich etwa 4,34 Millionen Kubikmeter Gas, das eigentlich für Europa bestimmt war.



