Es knirschte gehörig in der Mindestlohnkommission. Erst durch das Machtwort der Vorsitzenden, des langjährigen Vorstandsmitglieds der Bundesagentur für Arbeit Christiane Schönefeld, wurde am Montag eine Empfehlung für die staatlich festgesetzte Lohnuntergrenze ausgesprochen. Demnach soll der Mindestlohn zum 1. Januar 2024 von zwölf auf 12,41 Euro und ein Jahr später auf 12,82 Euro steigen.
Die Arbeitnehmervertreter in dem Gremium tragen den Entschluss nicht mit. DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell, der auch Mitglied der Mindestlohnkommission ist, sagte am Montag in Berlin: „Für eine Anpassung lediglich im Cent-Bereich konnten wir auf keinen Fall unsere Hand reichen.“ Mit dem Beschluss erlitten die fast sechs Millionen Mindestlohnbeschäftigten einen enormen Reallohnverlust. „Um einen Mindestschutz und einen Ausgleich der Inflation zu gewährleisten, hätte der Mindestlohn zumindest auf 13,50 Euro steigen müssen. Die Arbeitgeber und die Vorsitzende der Kommission haben sich dem verweigert“, sagte Körzell.
DGB: Berechnung der Arbeitgeber ist „Missachtung des Gesetzgebers“
Die Kommission hält die Entscheidung hingegen für ausgewogen: „Die Beschlussfassung fällt in eine Zeit schwachen Wirtschaftswachstums und anhaltend hoher Inflation in Deutschland, die für Betriebe und Beschäftigte gleichermaßen große Herausforderungen darstellen.“ Die Mehrheit der Kommission halte es im Rahmen einer Gesamtabwägung für vertretbar, den Mindestlohn in diesem Umfang zu erhöhen.
Bis Ende 2024 muss die EU-Mindestlohnrichtlinie in nationales Recht umgesetzt werden, wonach die Mindestlöhne in der Europäischen Union mindestens 60 Prozent des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten erreichen sollen. Dies würde einem Mindestlohn in Höhe von mindestens 14 Euro entsprechen.
Der DGB bezeichnete es als „vollkommen aberwitzig“, dass die Arbeitgeber als Basis für die nächste Erhöhung nicht den aktuell vom Gesetzgeber festgelegten Mindestlohn von zwölf Euro angesetzt haben. Mit dem neu gefassten Beschluss gehen die Arbeitgeber stattdessen vom alten Mindestlohn in Höhe von 10,45 Euro aus. „Das kommt einer Missachtung des Gesetzgebers gleich, der vor dem sprunghaften Anstieg der Inflation die zwölf Euro festgelegt hatte, um den Mindestlohn armutsfest zu gestalten“, teilte der DGB mit. Die Ampel-Regierung hatte den Mindestlohn zuletzt außer der Reihe, ohne Konsultation der Mindestlohnkommission, auf zwölf Euro angehoben.
Für Thorsten Schulten, dem Leiter des Bereichs Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI), ist die Entscheidung ein „Skandal“. Die Kommission sei von ihrer bisherigen Praxis abgewichen, einen Kompromiss zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu finden. Schulten erläuterte im Gespräch mit der Berliner Zeitung: „Die Arbeitgeber schießen sich mit der Entscheidung selbst ins Knie.“ Denn in einigen Branchen dürfte es bei der geringen Lohnerhöhung schwierig werden, Fachpersonal zu finden. Auch gesamtwirtschaftlich gesehen werde weiterer Kaufkraftverlust fortgeschrieben, und das, obwohl sich Deutschland in der Rezession befände und der Konsum deshalb besonders unter Druck stehe. Das bisherige Verfahren scheint an Grenzen zu stoßen. Man werde darüber nachdenken müssen, das Anpassungsverfahren zu reformieren, sagte Schulten, denn strukturelle Erhöhungen des Mindestlohns seien im Rahmen der Kommission offensichtlich nicht möglich.
Für mehr als elf Millionen Beschäftigte in Deutschland, die im Niedriglohnsektor tätig sind, sei dies „eine bittere Entscheidung“, hob der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, hervor. Mit gerade einmal 41 Cent, also 3,4 Prozent mehr, gleiche die Erhöhung nicht einmal die durchschnittliche Inflation von sieben Prozent im Jahr 2022, voraussichtlich sechs Prozent 2023 und wahrscheinlich drei Prozent 2024 aus. Geringverdiener müssten einen größeren Anteil ihres Einkommens für die Dinge ausgeben, die sehr viel teurer geworden sind, allen voran Lebensmittel, die sich in den vergangenen 15 Monaten um weit mehr als 20 Prozent verteuert haben, beklagte Fratzscher.
SPD trägt Entscheidung der Kommission mit
Trotz des Konflikts in der Mindestlohnkommission will die Regierung an dem bisherigen Prozedere festhalten. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) teilte mit, den Beschluss der Mindestlohnkommission umzusetzen. Die Alternative wäre keine Erhöhung des Mindestlohns zum 1. Januar, „was angesichts der Inflationsentwicklung nicht verantwortbar ist“, sagte Heil.
Die Co-Vorsitzende der SPD, Saskia Esken, erklärte, die Anhebung des Mindestlohns trage der Inflation nicht ausreichend Rechnung. Jetzt komme es darauf an, die Tarifbindung auszuweiten, um attraktive Arbeitsbedingungen zu erhalten, gerade in Zeiten des Fachkräftemangels – dieser sei die Achillesferse der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, sagte Esken. „Der Mindestlohn ist eine Erfolgsgeschichte“, sagte die Co-Vorsitzende der SPD. „Dafür braucht es aber auch konsensuale Entscheidungen.“




