Essay

Cum-Ex: Wie sich der deutsche Staat an den illegitimen Geschäften beteiligt hat

Amtsträger der Bundesrepublik Deutschland haben alles getan, um die Aufklärung in Sachen Cum-Ex zu unterbinden. Der Staat steckt tief im Skandal. Ein Gastbeitrag.

Entgegen der landläufigen Annahme ist die andere, erdabgewandte Seite des Mondes nicht dauerhaft dunkel. Ein Astronaut beim Simulieren einer Mondlandung
Entgegen der landläufigen Annahme ist die andere, erdabgewandte Seite des Mondes nicht dauerhaft dunkel. Ein Astronaut beim Simulieren einer Mondlandungpiemags/imago

Seit den Bildaufnahmen der Sonde Luna 3 im Jahr 1959 weiß die Menschheit um die Vorzüge der Rückseite des Mondes. Entgegen der landläufigen Annahme ist die andere, erdabgewandte Seite des Mondes nicht dauerhaft dunkel. Wir können es lediglich nicht sehen, wenn dort die Sonne scheint. Die Erkenntnis, dass wo Schatten ist, immer auch Licht ist – und umgekehrt –, ist bei der politischen Aufarbeitung des Cum-Ex-Skandals um die Erstattung nicht gezahlter Kapitalertragsteuern abhandengekommen.

Geschichten sind am schönsten, wenn sie Licht und Schatten – Gut und Böse – trennscharf zeigen. Aber was ist das Gute? Was ist das Böse? Im Fall Warburg glauben die CDU und die Linke in ebenso seltener wie überraschender Einmütigkeit und im Rückblick auf eine Momentaufnahme des Jahres 2017, das „Gute“ im Bundesfinanzministerium und bei der Staatsanwaltschaft Köln und das Böse in der hamburgischen Finanzverwaltung und beim damaligen Ersten Bürgermeister und jetzigen Bundeskanzler Olaf Scholz auszumachen. Das „gute“ Bundesfinanzministerium enttarnt mit Hilfe einer einzelkämpferischen NRW-Staatsanwältin die „bösen“ – mit der privaten Warburg Bank unter einer Decke steckenden – Hamburger Amtsträger und Finanzbeamten und weist diese an, die „geraubten“ Steuern zurückzuholen. War es wirklich so einfach? „Und man sieht nur, die im Licht sind …“

Eine unheilige Allianz

Wahrheit ist die „Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“ (Immanuel Kant). Man kann einen Gegenstand aber nicht so erkennen, wie er ist, wenn man ihn nur von einer Seite ansieht. Vulgo: Die halbe Wahrheit ist die ganze Lüge. Genau das aber geschieht, wenn die Augen vor dem Cum-Ex-Geschehen im Bund, in Hessen und in Nordrhein-Westfalen fest verschlossen bleiben.

Wenn schon noch ein Untersuchungsausschuss, dann richtig. Soll die ganze Wahrheit ans Licht kommen, muss der Cum-Ex-Mond umrundet und in seiner Gesamtheit in den Blick genommen werden. Eine echte – also nicht parteitaktisch motivierte – Untersuchung müsste daher auch die unheilige Allianz der Untätigkeit zwischen dem Bundesfinanzministerium und dem Hessischen Ministerium der Finanzen beleuchten.

Die Eingangstür des Bankhauses M.M.Warburg & Co
Die Eingangstür des Bankhauses M.M.Warburg & CoAxel Heimken/dpa

Die große Untätigkeit

Angesichts des Desinteresses im Hessischen Finanzministerium fand das Thema erst ein Jahr später, im Dezember 2002, seinen Weg zum Bundesministerium der Finanzen (BMF), aber nicht durch die Finanzverwaltung, sondern durch ein Schreiben des Bundesverbandes deutscher Banken (BdB). Dieser beschrieb nicht nur das Problem, sondern lieferte gleich auch einen – unvollkommenen – Lösungsvorschlag: „In dem Sonderfall eines sogenannten Leerverkaufes sind […] zusätzliche Regelungen notwendig, um dem Fiskus die Kapitalertragsteuer betragsmäßig zur Verfügung zu stellen, die dem Anrechnungsanspruch entspricht […]. Hierzu schlagen wir […] Folgendes vor: […] • die Begründung einer Abzugs- und Abführungspflicht für eine Kapitalertragsteuer zu Lasten des Leerverkäufers für Rechnung des Erwerbers der Aktien.“

Drei Jahre geschah danach aber mehr oder weniger nichts. Anschließend wurde der Vorschlag des Bankenverbandes mit dem Bundesamt für Finanzen und den Ländern beraten. Einige Länder meldeten Bedenken an, am Ende einigte man sich darauf, den Vorschlag des Bankenverbandes weiterzuverfolgen: „Es solle jedoch versucht werden, die notwendigen Gesetzesänderungen gegenüber dem Vorschlag deutlich zu vermindern.“ Dies gelang nicht, und über das „Jahressteuergesetz 2007“ wurde der Vorschlag des BdB leicht modifiziert mit Wirkung zum 1. Januar 2007 Gesetz.

Die Ministerialebene interessierte die Gesetzeslage nicht

Bereits im April 2007 behauptete der stellvertretende Leiter der Steuerabteilung der HSH Nordbank in der wichtigsten deutschen Fachzeitschrift „Deutsches Steuerrecht“, die Neuregelung sei wirkungslos. Jahre später wurde bekannt, dass die im gemeinsamen Eigentum von Hamburg, Nordrhein Westfalen und Schleswig-Holstein stehende HSH Nordbank in großem Umfang Cum-Ex-Geschäfte tätigte.

Der Aufsatz rief einen Betriebsprüfer der Hessischen Finanzverwaltung auf den Plan. Er wandte sich erneut an das BMF und das Hessische Finanzministerium. Es geschah jedoch wieder: nichts. Vielmehr vermerkte man im Hessischen Finanzministerium sogar, über die „Notwendigkeit und Durchführbarkeit eines bundesweit einheitlichen Prüfungsverfahrens […] hinsichtlich der [neu eingeführten] Einbehaltung und Abführung von Kapitalertragsteuer auf die betreffenden Ausgleichszahlungen“ könne noch nicht entschieden werden. Die „Diskussion um die Auslegung“ der neuen Vorschriften sei noch nicht abgeschlossen und es fehle an einer ausreichenden Zahl qualifizierter Prüfer. Offensichtlich interessierte man sich auf Ministerialebene nicht wirklich für den Vollzug des gerade erst eingeführten Gesetzes.

Wie die Deutsche Bank AG sich wehrt

Im BMF ging man währenddessen gleichwohl davon aus, der Gesetzesvollzug durch die inländischen Depotbanken der Verkäufer erfolge – auch ohne die üblichen Prüfungen – ordnungsgemäß und kümmerte sich in der Folge nur noch um die als Problem identifizierten ausländischen Depotbanken und Gestaltungen mit Investmentfonds: Im Juni 2012 berichtet die zuständige Fachabteilung an den Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen: „Inländische Banken müssen bei Leerverkäufen Kapitalertragsteuer auf die Kompensationszahlungen erheben. Daher werden die Leerverkaufsgestaltungen ausschließlich über ausländische Banken abgewickelt.“

2013 kommt die Frage, ob die inländischen Depotbanken ihrer Verpflichtung zum Gesetzesvollzug nachgekommen sind, in einer Fahndungsprüfung der sogenannten „Ermittlungsgruppe Duplo“ der hessischen Steuerfahndung auf. Man schreibt die fragliche Depotbank – die Deutsche Bank AG – an und bittet um Stellungnahme, ob sie Kapitalertragsteuer einbehalten habe. Die Deutsche Bank AG verneint und wehrt sich zugleich mit anwaltlicher Hilfe heftig gegen eine drohende Inhaftungnahme durch die hessische Finanzverwaltung.

Das Logo der Deutschen Börse Group.
Das Logo der Deutschen Börse Group.Frank Rumpenhorst/dpa

Der Deutschen Bank war ihr Cum-Ex-Meisterstück gelungen

Die Ermittlungsgruppe Duplo wandte sich angesichts dessen mit der Auffassung der Deutschen Bank an die Oberfinanzdirektion, die diese ihrerseits dem Hessischen Finanzministerium vortrug. Dort ließ man sich von der Deutsche Bank AG überzeugen und verfügte mit Erlass vom 24. Juli 2014, dass bei der Deutsche Bank AG „keine die Kompensationszahlung betreffende Kapitalertragsteuerabzugsverpflichtung besteht“.

Die Oberfinanzdirektion wies daraufhin die Ermittlungsgruppe Duplo an, dass es eine Folge des Erlasses sei, dass „auch die Haftungsnorm des § 44 Abs. 5 EStG nicht einschlägig“ sei. Mit anderen Worten: Eine Inhaftungnahme der Deutsche Bank AG und weiterer inländischer Verkäufer-Depotbanken war vom Tisch. Der Deutschen Bank war ihr Cum-Ex-Meisterstück gelungen; was die Mitarbeiter der Steuerabteilung der Deutschen Bank schon Anfang 2007 als Prophezeiung wagten, war Wirklichkeit geworden.

Im Erlass des Hessischen Finanzministeriums heißt es lapidar, man habe „Bund und Länder […] über die Problematik unterrichtet“. Im Bundesfinanzministerium gab es keinen Widerstand. Entweder bemerkte man gar nicht, dass mit dieser Entscheidung die noch im Juni 2012 an den Staatssekretär berichtete Einschätzung, inländische Banken müssten bei Leerverkäufen Kapitalertragsteuer seit 2007 einbehalten, vollständig ausgehebelt wurde, oder man ließ die hessische Finanzverwaltung aus anderen Gründen gewähren.

Das hessische Finanzgericht hingegen bezeichnet die von der Deutsche Bank AG vorgetragenen rechtlichen Argumente in einem Urteil vom 10. März 2017 als „systematisch fehlerhaft“ (FG Hessen, 10.03.2017 – 4 K 977/14, EFG 2017, 656, Rn. 112, bestätigt durch FG Hessen, 04.06.2021 – 4 V 723/20) und erstattete als Gericht – ein extrem seltener Vorgang – sogar selbst Strafanzeige gegen die Verantwortlichen der Deutsche Bank AG. Darüber hinaus ist die Untätigkeit des BMF auch deshalb verwunderlich, weil es – mit Unterstützung des Bundesfinanzhofs – sonst vehement die Rechtsauffassung vertrat und vertritt, es sei für die Banken „zur Vermeidung eines Haftungsrisikos allein pflichtgerecht“, Kapitalertragsteuer auch in allen Zweifelsfällen einzubehalten.

Landesbanken an Cum-Ex-Transaktionen beteiligt

Wieder auf die politische Tagesordnung kam das Thema des Vollzugs der mit dem Jahressteuergesetz eingeführten Verpflichtung inländischer Verkäufer-Depotbanken zum Einbehalt von Kapitalertragsteuer dann erst wieder mit dem ersten Cum-Ex-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Dem Abschlussbericht ist zu entnehmen, dass der Vorsitzende dieses ersten Cum-Ex-Untersuchungsausschusses das Bundesfinanzministerium am 29. März 2017 darum bat, einem schriftlichen Hinweis aus der Mitte des Hessischen Finanzgerichts nachzugehen, nämlich „dass inländische Depotbanken – entgegen der bestehenden gesetzlichen Verpflichtung – keine Kapitalertragsteuer auf Dividendenkompensationszahlungen erhoben haben“.

Im BMF und bei den obersten Finanzbehörden der Länder sollte „der Sachverhalt geprüft und ggf. das Notwendige veranlasst werden“ (BT Drs. 18/12700, S. 332). Mit Schreiben vom 19. April 2017 antwortete das BMF dem Deutschen Bundestag, „dass das Urteil des Hessischen FG die Finanzverwaltung in ihrer Rechtsauffassung im Umgang mit Cum-Ex-Sachverhalten bestärke und beabsichtigt sei, die Entscheidung im Rahmen des regelmäßigen Austausches mit den obersten Finanzbehörden der Länder zu erörtern“ (BT Drs. 18/12700, S. 44). Tatsächlich aber revidierte die Hessische Finanzverwaltung ihre im Erlass vom 24. Juli 2014 niedergelegte gegensätzliche, für den Fiskus ausgesprochen nachteilhafte und für die inländischen Depotbanken vorteilhafte Auffassung ungeachtet der günstigen Rechtsprechung des „eigenen“ Finanzgerichts nicht.

Das bedeutete zugleich, dass man auch der vom Hessischen Finanzgericht im Mai 2017 erstatteten Strafanzeige gegen die Verantwortlichen der Deutsche Bank AG nicht nachging (Wortprotokoll der 94. Sitzung des Finanzausschusses des Bundestages vom 9. September 2020 – Protokoll Nr. 19/94 – Anlage 4, Stellungnahme Lotzgeselle, S. 7). Selbst angesichts des außergewöhnlichen Vorgangs einer Strafanzeige durch das eigene Finanzgericht blieben die hessischen Finanz- und Justizbehörden also untätig. Auch das BMF schritt trotz der vorliegenden positiven Gerichtsentscheidung und der Kenntnis der hessischen Praxis sowie der massiven Nachteile für den Fiskus in keiner Weise ein. Der Untersuchungsausschuss des Bundestages hatte seine Tätigkeit ohnehin eingestellt, als herauskam, dass die öffentlichen Hände in Deutschland in Gestalt ihrer – vom Bundesgerichtshof rechtlich als „Behörden“ eingestuften – Landesbanken „in erheblichem Umfang Cum-Ex-Transaktionen durchführten“, so der Schlussbericht.

Eine Reklame der <strong>WestLB </strong>
Eine Reklame der WestLB Julian Stratenschulte/dpa

Die Deutsche Bank blieb unbehelligt

Später im Jahr 2017 gelangten Cum-Ex-Vorwürfe gegen die Warburg-Bank auf den Schreibtisch des Bundesfinanzministeriums. Die hamburgische Finanzverwaltung hatte die Frage aufgeworfen, ob nicht richtigerweise nach dem ab 2007 geltenden Gesetz die Deutsche Bank für die von ihr nicht einbehaltene Kapitalertragsteuer in Anspruch genommen werden sollte. Zu berücksichtigen sei im Vergleich zu anderen Fällen, dass die Transaktionen über eine zum Steuereinbehalt verpflichtete inländische Bank und nicht – wie ansonsten bei Leerverkäufen ab 2007 üblich – über eine ausländische Bank abgewickelt worden seien.

In der Tat hätte ein ordnungsgemäßer Gesetzesvollzug durch die inländischen Verkäufer-Depotbanken für Verkäufe von Aktieninhabern gesprochen. Deren steuerliche Benachteiligung beim Dividendenbezug hat der Europäische Gerichtshof mehrfach für unionsrechtswidrig erklärt. Schlagartig musste man im Bundesfinanzministerium erkennen, dass der Fall das Potential hatte, die Versäumnisse des BMF beim Vollzug der gesetzlichen Pflicht der inländischen Depotbanken zum Einbehalt von Kapitalertragsteuer inklusive der Duldung der „systematisch fehlerhaften“ Praxis der Hessischen Finanzverwaltung, die Missachtung der Prüfbitte des Bundestages und den dadurch potentiell entstandenen Milliardenschaden aufzudecken.

Zu einer Dienstbesprechung mit der Hamburger Finanzverwaltung wurde eine für das Verfahren gegen die Deutsche Bank zuständige Kölner Staatsanwältin gebeten, die – ohne ihre Behörde zu informieren – zu der Ministeriumsbesprechung geladen wurde. Das Ergebnis dieser Besprechung war jedenfalls eine „Weisung“ des BMF an die Hamburgischen Beamten, gegen Warburg vorzugehen, während deren Anfrage in Sachen Deutsche Bank als für den Nichteinbehalt der Kapitalertragsteuer verantwortliche Depotbank auf die lange Bank geschoben wurde.

Steuerausfälle in Milliardenhöhe

Folge des Desinteresses im Bundesfinanzministerium am Vollzug der Pflicht der Depotbanken zum Einbehalt von Kapitalertragsteuer auf Dividendenkompensationszahlungen dürften Steuerausfälle in Milliardenhöhe sein.

Die Cum-Ex-Nachsicht Nordrhein-Westfalens mit sich selbst

Besonderen Anlass zur Freude um die Ablenkung aus Hamburg herrscht in Nordrhein-Westfalen; von staatlicher Seite wird bis heute alles dazu beigetragen, dass es dabei bleibt.

Jahrelang verbuchte die zu 100 Prozent im Eigentum des Landes NRW und seiner öffentlichen Sparkassen stehende, mit eigenen Niederlassungen in London und New York international tätige Landesbank WestLB (jetzt Portigon AG) in ihrer Bilanz „laufende Ertragsteueransprüche“, die die gezahlten Ertragsteuern um mehr als eine Milliarde Euro überschritten.

Am 4. April 2007 tätigte die WestLB das größte „Cum-Ex“-Geschäft aller Zeiten in Gestalt des Erwerbs von 144,2 Millionen Stückaktien der Daimler-Chrysler AG im Wert von fast neun Milliarden Euro und wurde damit für ein paar Tage größter Einzelaktionär der Daimler-Chrysler AG. Bei Freshfields witzelte ein Anwalt zu dem Vorgang laut Handelsblatt: „Unsere Cum-Ex-Freunde von der WestLB haben einen Tag vor der Hauptversammlung ordentlich zugeschlagen.“ Inzwischen ist infolge eines Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main vom 29. September 2021 sowie des Urteils des OLG Frankfurt am Main vom 21. Dezember 2022 (4 U 282/21) bekannt, dass der von der NRW-eigenen WestLB mit Cum-Ex-Geschäften verursachte Steuerschaden mindestens 1 Milliarde Euro beträgt, was sich durch die in mehr als zehn Jahren aufgelaufenen Zinsen nochmal deutlich erhöht haben dürfte.

In den Jahren 2007/2008 wurde wegen der Daimler-Chrysler-Transaktionen von der deutschen Bankaufsichtsbehörde BaFin eine Sonderprüfung durch einen externen Gutachter bei der WestLB durchgeführt. Der Sonderprüfungsbericht muss sowohl der BaFin und damit dem übergeordneten BMF als auch der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestellt worden sein. Eine Einsichtnahme in diesen Sonderprüfungsbericht hat bisher noch keiner der drei in Sachen Cum-Ex tätigen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse auch nur gefordert. Dafür hat im Frühjahr 2023 der zwischenzeitlich ausgewechselte NRW-Landesjustizminister Biesenbach in einem Interview ausgeplaudert, durch persönliche Intervention die Erhebung bereits fertiger Anklagen der Staatsanwaltschaft Düsseldorf in Sachen WestLB unterbunden und die Abgabe dieser Strafsachen an die Staatsanwaltschaft Köln veranlasst zu haben. Dort liegen sie seit mehreren Jahren.

Damit wurde die Chance einer Aufklärung im Sinne echter Wahrheitsfindung vertan. Wo kein Ankläger, da kein Richter. So konnte es geschehen, dass das Land Nordrhein-Westfalen sich selbst vor einer wahrheitsgemäßen Antwort auf die Frage der Strafgerichte schützte, wie seine Organe in Sachen Cum-Ex und Leerverkäufen gehandelt haben. Die Verantwortlichen des Landes lagerten den Streit um die Verantwortung für die Cum-Ex-Transaktionen durch die staatseigene Nachfolgegesellschaft der WestLB, die Portigon, inzwischen in die USA aus – genauer an ein amerikanisches Bezirksgericht im Staate New York –, wo sie den internationalen Aktienverkäufer ICAP, einen engen Handelspartner der Deutschen Bank, bis heute auf Schadensersatz wegen Täuschung verklagt.

Portigon lässt vor dem Gericht vortragen, sie habe die Transaktionen zwar auf Drängen „der Behörden“ von 2015 bis 2018 umfangreich durch das Wirtschaftsprüfungsunternehmen EY untersuchen lassen. Dabei seien jedoch „keinerlei Hinweise auf Leerverkäufe gefunden“ worden und man sei von der Rechtmäßigkeit der Steuererstattungsansprüche ausgegangen. Erst Anfang 2020 sei die Finanzverwaltung (also die NRW-Landesbehörde) auf NRW-Portigon (also auf die landeseigene Gesellschaft) zugekommen und habe Portigon darüber informiert, die WestLB sei seinerzeit möglicherweise vom „Broker“ ICAP, der die Aktien leer verkauft habe, betrogen worden.

Alle stürzten sich auf den Warburg-Komplex

Wenn es nicht um die NRW-Beteiligungsgesellschaft und die Verantwortlichkeit des Landes geht, kommen die nordrhein-westfälischen Staatsgewalten zu ganz anderen Wertungen. Glaubhaft seien ausschließlich solche Aussagen, wonach „sich professionelle Marktakteure“, die über einen längeren Zeitraum Cum-Ex-Transaktionen getätigt hätten, nicht der Erkenntnis hätten „verschließen können, welche Strategie insoweit verfolgt wurde und wo die Profite herrührten“.

„Professionellen Marktakteuren habe bereits aufgrund der Handelsdaten und aufgrund weiterer Parameter der Aktien- und Derivatgeschäfte, insbesondere aber aufgrund der erzielten Profite klar sein müssen“, dass es um die Erstattung nicht gezahlter Steuern gehe (Urteil des Landgerichts Bonn vom 1. Juni 2021, S. 165). Wäre es 2017 zu den bereits fertigen Anklagen der Staatsanwaltschaft Düsseldorf in Sachen WestLB gekommen, hätte genau diese Frage der angeblichen „Offensichtlichkeit“ der Erstattung nicht gezahlter Steuern schon vor fünf Jahren durch eine deutsche Strafkammer geklärt werden können. Stattdessen aber wurden die Verfahren gegen Verantwortliche der WestLB (und der Deutschen Bank) auf Jahre zurückgestellt, der sogenannte „Warburg-Komplex“ in den Mittelpunkt der öffentlichen Aktionen der NRW-Strafverfolgungsbehörden gestellt und in zeitraubende Einzelverfahren aufgespalten.

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Zum Autor
Dr. Peter Gauweiler, 1949 geboren, wurde 1978 als Rechtsanwalt in München zugelassen und hat sich im Oktober 2019 wieder mit dem Rechtsanwalt Alfred Sauter in der Rechtsanwaltskanzlei Gauweiler & Sauter verbunden. Seine Mandanten hat er in einer Vielzahl großer, teilweise bundesweit beachteter Zivilprozesse und als Verteidiger in zahlreichen Strafverfahren vertreten. Von 1986 bis 1994 war er Mitglied der Bayerischen Staatsregierung. Gauweiler gehörte von 1990 bis 2002 dem Bayerischen Landtag, von 2003 bis 2015 dem Deutschen Bundestag an.

Wie der Staat ein Verbrechen nicht aufklären will

Die Finanzverwaltung in NRW geht derweil – nach dem Vortrag der landeseigenen Portigon vor dem Gericht in den USA – nach wie vor davon aus, die staatseigene WestLB/Portigon habe den Leerverkaufscharakter der Cum-Ex-Geschäfte nicht erkennen können und müssen. Sie soll Portigon sogar auf die Möglichkeit einer Täuschung der WestLB durch ICAP hingewiesen haben. Achtung: Das lässt das Bundesland Nordrhein-Westfalen vor einem ausländischen Gericht vortragen, das auf Weisung seines Justizministeriums nicht nur hamburgische Landesbehörden, sondern sogar das Bundeskanzleramt durchsuchen lassen wollte, weil die behördliche Akzeptanz der Behauptung, man sei von Verkäufen durch ausländische Aktieninhaber ausgegangen, im Verfahren gegen Warburg so abwegig sei, dass strafrechtliche Ermittlungen gegen die Beamten angemessen seien.

Ein Fazit: Amtsträger aller drei Staatsgewalten haben bisher alles getan, was in ihrer Macht steht und stand, um die Aufklärung von staatlicher Beteiligung und staatlichem Nutzen in Sachen Cum-Ex zu unterbinden sowie das staatliche Versagen beim Vollzug des Jahressteuergesetzes 2007 zu vertuschen. Sie hoffen, dass es für sie eine dunkle Seite des Mondes mit einem sicheren Versteck gibt. Unter die Räder kommen sollen die anderen.

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