Berliner Fußball-Derby

Zerknüllte Trikots: Von Widerstandskraft ist bei Hertha BSC nichts mehr übrig

Die verstörenden Bilder nach dem Derby gegen den 1. FC Union sind der bisherige Höhepunkt einer langen Entfremdung zwischen der alten Dame und ihren Fans.

Herthas Profis wie hier Lucas Tousart spürten den Frust der Fans nach der Derby-Niederlage am eigenen Leibchen.
Herthas Profis wie hier Lucas Tousart spürten den Frust der Fans nach der Derby-Niederlage am eigenen Leibchen.Imago/Camera4

Wie groß war die Freude über die Rückkehr der Fans. Funktionäre, Spieler, alle miteinander hatten sie herbeigeredet. Und zum Berliner Derby am Sonnabend kamen nach der Aufhebung der Corona-Regeln sogar die Ultras zurück. Fans sind, dem Wortstamm nach, Menschen, die von etwas oder jemandem in rasende Begeisterung versetzt werden. Fanaticus bedeutet: von der Gottheit ergriffen. Für Fußballfans kann Fußball göttlich sein. Das war bei Hertha BSC länger nicht der Fall. Deshalb fiel wohl das, was am Samstagabend im Berliner Olympiastadion geschah so drastisch aus, dass die Szenen auf der blauen Laufbahn bei Beteiligten und Unbeteiligten noch länger im Gedächtnis bleiben: Verschüchterte Hertha-Spieler, fast alles Jungs, die eben noch das Clerasil zugeschraubt und Referate an der Poelchau-Schule gehalten hatten, schlüpften aus ihren blau-weißen Hertha-Trikots und warfen sie zerknüllt aufs Tartan.

Hertha-Fans suchen Schuldige

Warum? Weil die Fans aus der Ostkurve es so wollten. Weil sie Schuldige brauchten. Weil sie nicht ergriffen waren, sondern erbost. Weil die Herthafans im ausverkauften Olympiastadion nicht von irgendjemanden, sondern vom Stadtrivalen 1. FC Union, das gleiche erfahren hatten, wie die Herthamannschaft auf dem Feld: eine maximale Demütigung, ein 1:4, bei dem die Köpenicker nicht nur die vier eigenen Treffer erzielt, sondern Timo Baumgartl den einen für Hertha gleich mit erledigt hatte. Es war die dritte Derby-Niederlage in dieser Saison.

Maximilian Mittelstädt, 25, wollte später lieber nicht sagen, wie die Kommunikation mit den Fans abgelaufen war. „Es war einfach eine Geste, das Trikot auszuziehen“, sagte er stattdessen. „Ich habe auch nur gehört, dass wir das Trikot ausziehen und vorne hinlegen sollen. Nach dem Spiel ist natürlich klar, dass die Fans sauer sind. Deswegen habe ich es auch gemacht.“ Hertha-Torwart Marcel Lotka, 20, einer der Besten seines Teams, sah nicht nur mitgenommen, sondern verängstigt aus: „Maxi Mittelstädt hat gesagt, wir müssen unsere Trikots ausziehen. Und dann habe ich das auch gemacht, weil das gefordert wurde. Aus Respekt. Die haben alles für uns gegeben. Natürlich ist das enttäuschend für die Fans.“

Linus Gechter, 20, kam ohne Trikot aus der Kurve, Petar Pekarik ebenfalls, Lucas Tousart wurde von einem Hertha-Fan im Innenraum am Trikot gezogen. Kein Großonkel Magath stellte sich in diesem Moment schützend vor seine Spieler, auch kein Buddy Fotheringham. Die Menge forderte ihren Tribut. Und all diejenigen, die sich nicht rechtzeitig in die Kabine verdrückt hatten, spürten die dumpfe Seite des Fanatismus am eigenen Fußballerleibchen.

Tatsächlich waren die verstörenden Bilder aus dem Olympiastadion der bisherige Höhepunkt einer Entfremdung zwischen Mannschaft und Fanbasis, ja vielleicht sogar zwischen Verein und Fans, die schon länger andauert. Das Banner mit der Forderung: „Windhorst und Gegenbauer raus!“, spiegelt in der Ostkurve nicht nur eine Einzelmeinung wider.

So ist die Vorführung der eigenen Nicht-Fußball-Götter nach der Derby-Niederlage als nächste Eskalationsstufe in einer langsam toxischen Beziehung zu sehen. Im Januar, nach dem DFB-Pokal-Aus im Derby, wurden die Hertha-Profis bereits von einem zehn Meter langen Banner am Zaun in der Hanns-Braun-Straße begrüßt: „SCHANDE“, stand dort. Kurz darauf marschierten etwa 80 Hertha-Ultras in dunkler Kleidung zum nicht-öffentlichen Training auf dem Schenkendorffplatz. Sie drohten damals: „Ihr kriegt noch mal die Ansage, aber ihr wisst, dass es auch davon noch eine Steigerungsform gibt.“ Am Sonntag sagte Hertha-Geschäftsführer Fredi Bobic über die Aktion von damals: „Das war kein Trainingsbesuch, das war ein Aufmarsch. Das geht halt nicht.“

Bobic verurteilte die Trikot-Demütigung vom Sonnabend, sagte, er hätte als Spieler sein Trikot nicht abgelegt, denn er habe es stets mit Stolz getragen. Doch um Stolz ging es auf der blauen Bahn nicht mehr. Die Spieler hatten Angst. „Enttäuschung und Frust nach so einem Spiel – alles verständlich. Aber die Jungs aufzufordern, das Trikot abzugeben, weil sie es nicht wert sind, dieses Trikot zu tragen – da wird aus meiner Sicht eine Linie überschritten. Das ist nicht okay“, sagte Bobic am Sonntag in der Sendung „Doppelpass“.

Fredi Bobic: „Das macht was mit den Spielern“

Tatsächlich gleicht diese Art von Fanverhalten eher einer emotionalen Sabotage. „Das macht was mit den Spielern – aber auf jeden Fall nichts Positives“, erläuterte Bobic. Der Kölner Mark Uth, der voriges Jahr im Trikot des FC Schalke 04 nach dem Abstieg wie seine Spielerkollegen nachts von Hooligans über den Campus in Gelsenkirchen gejagt wurde, kann das bestätigen. Die Psychologie kennt heftige Reaktionen enttäuschter Liebe. Sie können gefährlich, ja, lebensbedrohlich sein. So wie Empathie und und Motivation das Selbstwertgefühl steigern, das Grundlage für Leistungsfähigkeit ist, passiert bei Kränkung und Ausgrenzung das Gegenteil.

Mit der Kränkungsverarbeitung ist es so eine Sache: Sie kann trainiert werden wie ein Muskel. Wird der Muskel jedoch zu sehr beansprucht, reißt er. Von Widerstandskraft war am Sonnabend bei den Hertha-Profis weder im Spiel noch danach etwas übrig. Die zerknüllten weiß-blauen Trikots, die schließlich neben einem Plastik-Bierbecher auf der Tartanbahn lagen, waren das traurige Zeugnis dafür.