Vor dem Stadtderby

Hertha steht mit dem Rücken zur Wand: Ein Sieg gegen Union würde viele Wunden heilen

Wie sollen die Blau-Weißen das Stadtderby gegen die Rot-Weißen bloß bestehen? Das Debakel gegen Wolfsburg wirft viele Fragen auf. Eine kommentierende Analyse.

Hertha-Kapitän Marvin Plattenhardt nach der Klatsche gegen Wolfsburg vor der Ostkurve
Hertha-Kapitän Marvin Plattenhardt nach der Klatsche gegen Wolfsburg vor der OstkurveCity-Press GmbH

Hertha BSC hat in nur vier Tagen eine recht volle Ladung Vertrauen eingebüßt. Die Summe aus dem 1:3 in Bochum und der 0:5-Heimklatsche gegen Wolfsburg sind ein „Schlag in die Fresse“, wie es Trainer Sandro Schwarz selbst auf der Pressekonferenz resümierte. Ein solcher Leistungsabfall war besonders in Anbetracht der guten Atmosphäre während des Trainingslagers in Florida nicht zu erwarten. Viele Hertha-Fans hofften auf sieben oder vielleicht sogar neun Punkte während der Englischen Woche und nicht auf zwei Nullnummern und einem 1:8-Torverhältnis. Und nun steht auch noch ein Heimderby vor der Tür.

Herthas Spielglück derzeit auf Abwegen

Herthas Restart in der Bundesliga verdeutlicht: Es mangelt bei der Zusammenstellung der Mannschaft an Qualität, die Innenverteidigung aus Augustin Rogel und Marc-Oliver Kempf war in Bochum und gegen Wolfsburg nicht bundesligatauglich, das Mittelfeld ist wiederum über lange Spielpassagen schlichtweg unsichtbar und im Sturm fehlt es an Durchschlagskraft. Auch das Spielglück (siehe VAR-Entscheidung zur vermeintlichen 1:0-Führung in Bochum) fehlt gerade an allen Ecken und Enden. Solche Aspekte verbindet man im Fußballgeschäft üblich mit klassischen Abstiegskandidaten.

Dabei waren die Leistungen der Berliner unter Sandro Schwarz bisher ganz ansprechend. Gegen Bayern München und RB Leipzig gab es knappe 2:3-Niederlagen, gegen Borussia Dortmund ein 0:1. Das Pokalaus in Braunschweig und die Derbypleite am ersten Spieltag (1:3) waren da schon härtere Schläge in die Magengrube.

Der Eindruck war jedoch, dass da, dank des neuen Trainers, eine mental stabile Truppe über Monate zusammengewachsen ist. Was die Mannschaft von Schwarz bis zum Dienstagabend im Vergleich zu den Horrorjahren zuvor ausgezeichnet hatte: Sie hat sich nicht, wie noch vor genau einem Jahr unter Tayfun Korkut, abschlachten lassen. Gegen Wolfsburg verfielen die Spieler allerdings wieder in alte Muster.

Auch in 2023 eine Konstante bei Hertha BSC: die Fans.
Auch in 2023 eine Konstante bei Hertha BSC: die Fans.City-Press GmbH

Die Realität an der Hans-Braun-Straße lautet spätestens seit der unterirdischen Wolfsburg-Partie: viertes Jahr Abstiegskampf in Folge. Besonders in der jetzigen Ausgangslage müssen gegen Union Berlin wieder Grundtugenden auf den Platz, die die Minimalanforderung an jeden Spieler sind: Galligkeit in der Arbeit gegen den Ball, Zweikampfstärke oder ein Reinwerfen in jeden Ball. So werden die Spieler auch die Hertha-Fans wieder hinter sich haben. Am Dienstagabend quittierte die Ostkurve nach dem Schlusspfiff die schwache Leistung mit kollektivem Schweigen. Bedröppelt schauten die Spieler in die enttäuschten Gesichter, jegliche „Derbysieg-Appelle“ wurden ausgelassen. Dafür saß der frische 0:5-Stachel einfach zu tief.

Auf der Hertha-Jugend ruht die Hoffnung

Kleine Hoffnungsfunken für das Derbywochenende gab es von den offensiven Nachwuchskräften Jessic Ngankam und Derry Scherhant. Sie hatten mit ihren Tempoläufen und Grätschen die Herthafans kurz nach der Halbzeit wieder aufgeweckt. Sie sind Spieler, die noch nicht durch etliche Derbyniederlagen gebrandmarkt sind. Auch Winterzugang Florian Niederlechner trainierte am Mittwoch zum ersten Mal gemeinsam mit seinen neuen Teamkollegen. Immerhin fünf Buden erzielte der gebürtige Bayer in seiner bisherigen Laufbahn gegen Union. Auch Kevin-Prince Boateng, nominell Vize-Kapitän der Herthaner, könnte mit seinen 35 Jahren für die ein oder andere atmosphärische Überraschung sorgen. Zumal er in dieser Spielzeit erst 102 Minuten auf dem Buckel hat. Not macht ja bekannterweise erfinderisch.

Stürmer Jessic Ngankam wirkte motiviert, aber auch glücklos bei der Wolfsburg-Niederlage.
Stürmer Jessic Ngankam wirkte motiviert, aber auch glücklos bei der Wolfsburg-Niederlage.imago/Matthias Koch

Somit wird es für Sandro Schwarz am Sonnabend das bisher wohl wichtigste Spiel seiner siebenmonatigen Station bei Hertha werden. Seine erste Hinrunde bezeichnete er als „nicht gute Bilanz“. Wenn schon nicht der erste Derbysieg gegen Union Berlin seit Dezember 2020 (3:1) herausspringen sollte, so muss aber mindestens eine erhebliche Leistungssteigerung her. Sonst werden die unangenehmen Fragen für den Trainer lauter, die nach einer Pleitenserie im Fußballgeschäft nun mal üblich sind. Auch wenn Fredi Bobic die Trainerfrage (noch) nicht hören möchte. „Ich habe ganz großes Vertrauen, weil er absolut und nicht mal ansatzweise zur Diskussion steht“, sagte der Sportchef.

Das Derbyspiel zu einem Endspiel für den doch hochgelobten Schwarz zu stilisieren, wäre auch nicht der richtige Ansatz. Ausweglos ist die Situation für die Alte Dame keinesfalls. Die Situation sei dennoch „so, dass du sie lösen kannst“, sagte Schwarz nach dem Wolfsburg-Spiel. 17 Partien haben die Berliner nun Zeit mindestens zwei, noch besser drei Teams, hinter sich zu lassen. Mannschaften wie Augsburg, Bochum und Stuttgart befinden sich alle in Schlagdistanz. Und final wird ja sowieso erst am 27. Mai abgerechnet. Gegner der Herthaner am letzten Spieltag: der VfL Wolfsburg.