Fußball-Bundesliga

Nach dem Siegtor von Wilfried Kanga verdrückt Herthas Präsident ein Tränchen

Wie schwer der Druck des Gewinnenmüssens auf Spielern, Trainern, dem ganzen Verein gelastet hat, wird nach Herthas 2:1-Sieg an vielen Reaktionen deutlich.

Wilfried Kanga stürmte nach seinem Treffer zum 2:1 in Richtung Ostkurve und feierte ausgelassen mit den Fans von Hertha BSC.
Wilfried Kanga stürmte nach seinem Treffer zum 2:1 in Richtung Ostkurve und feierte ausgelassen mit den Fans von Hertha BSC.City-Press

Wilfried Kanga war anzusehen, dass er Fußball nicht nur mit dem Fuß, sondern auch mit der Seele spielt. Er sprintete am Sonntagabend nach dem 2:1-Siegtreffer für Hertha BSC gegen den FC Schalke direkt auf die Fans in der Ostkurve des Olympiastadions zu. Den Mund weit geöffnet, die Hände zu Fäusten geballt. Der Graben aus Beton, der Fußballfeld und Tartanbahn von den Tribünen trennt, ist unüberwindbar breit und mindestens fünf Meter tief. Aber trotzdem sah es aus, als würde der Stürmer am liebsten jeden Herthaner von Reihe eins bis Reihe 127 in seine kräftigen Arme schließen. So weit beugte er sich denjenigen entgegen, die wohl mindestens so erleichtert über den ersten Heimsieg der Berliner waren wie Kanga selbst.

Wilfried Kanga spricht vom perfekten Moment

„Das ist ein perfekter Moment und hoffentlich nicht das letzte Mal, dass ich einen Treffer so bejubeln darf“, sagte der französisch-ivorische Stürmer, der vor der Saison von den Young Boys aus Bern nach Berlin gekommen war – und seither auf das hatte warten lassen, wofür er verpflichtet worden war: Tore. „Dass Wilfried Kanga sein erstes Tor in einem so entscheidenden Moment der Saison geschossen hat, war unfassbar wichtig für uns. Die vergangenen Wochen waren nicht leicht für ihn – umso schöner, dass er uns die drei Punkte beschert hat“, sagte Verteidiger Marc-Oliver Kempf.

Wie gut der Heimsieg nicht nur Kanga und dem Team, sondern dem ganzen Verein tat, war zu erahnen, als die Fernsehkamera auf die Ehrentribüne zoomte. Dort stand Präsident Kay Bernstein mit geschlossenen Augen. Er sah aus, als genieße er das Tor, diesen Moment des späten Sieges nach einer turbulenten Schlussphase, in der die Schalker in der 85. Minute durch Florent Mollet zum 1:1-Ausgleich gekommen waren, wie einen lang ersehnten Kuss. Was ihm alles durch den Kopf schoss? Spürte er das weiß-blaue Meer der Hertha-Fans, das in Wellen der Begeisterung auf und nieder hüpfte? Hörte er den Berliner Part der 60.000 Zuschauer jubeln, klatschen, schreien? Dachte er daran, dass Jean-Paul Boëtius nur wenige Wochen nach seiner Hodenkrebs-Operation erstmals wieder spielen konnte?

Als die Kamera ihn wenig später noch mal einfing, waren die Tränen zu sehen, die ihm in den Augen standen. Bernstein begreift die Hertha-Präsidentschaft nicht als Verwaltungsakt. Er lebt den Verein. Deshalb war er im Juni ja als derjenige angetreten, der den Wandel moderieren, den Neuanfang einleiten und Hertha nahbarer machen wollte. Mit all dem hat er begonnen, ja. Aber was zählt das, wenn Siege ausbleiben? Wenn der Druck von Woche zu Woche größer wird?

Bernstein wurde nach dem ersten Heimsieg im elften Saisonspiel, der Hertha auf Platz 13 klettern ließ, zu einer lebendig gewordenen, blau-weiß-bejackten Mischung aus Dankbarkeit und Erleichterung. So viel Echtheit ist selten im Fußball-Geschäft. Und so viel Nahbarkeit schafft gleichzeitig so viel mehr Sympathie als das pseudointellektuelle Gequatsche, mit dem sich Präsidenten anderer Bundesligaklubs sonst so hervorzutun versuchen.

Kay Bernstein twittert vom Hoffen, Fluchen, Zittern, Jubeln

„Gestern ging in unserem Wohnzimmer erstmals in Erfüllung, was als ‚WirHerthaner‘-Idee begann. Und was durch euch alle eine grandiose Kraft geworden ist“, twitterte Bernstein am Montagvormittag an die Anhänger von Hertha BSC. Und: „Wir haben gemeinsam gesungen, gehofft, geflucht, gezittert, gejubelt. Wir haben gemeinsam verloren und nun gemeinsam gewonnen. Vielleicht hat der ein oder andere auch ein Tränchen verdrückt.“

Charmant spielte Bernstein da im letzten Satz auf seinen Gefühlsausbruch an. Denn all das, was zuletzt von vielen als Aufwärtstrend ausgemacht worden war, war ohne Stabilität in Form von Punkten fragil geblieben: die Qualität des neuen Trainers etwa, die Praktikabilität seines offensiveren Spielstils. Auch die Qualität der Neuen, die Manager Fredi Bobic nur unter finanziellen Zwängen nach Berlin-Westend lotsen konnte. Und Kanga? War der nicht bloß der Übriggebliebene, nachdem sich der Stadtrivale in Köpenick Young-Boys-Stürmer Jordan Siebatcheu schon geschnappt hatte?

Der Unterschied zwischen gewinnen wollen und gewinnen müssen

Kanga (24) ist ein anderer Typ von Stürmer. Einer, der für die Mitspieler ackert, Vorlagen liefert. Doch Bobic hatte bemerkt: „Natürlich braucht ein Stürmer für seine Seele Tore.“ Und er hatte über den Nationalspieler der Elfenbeinküste angefügt: „Aber wenn er so weiterarbeitet, kommt das andere von selbst.“ Gegen Schalke war es so weit.

Hertha war mit der Hypothek des Gewinnenmüssens  angetreten – und hatte erst mal zwei Tore kassiert, die beide aber wegen Abseits aberkannt wurden. Und dann verhalf Schalkes Torhüter Alexander Schwolow mit seinem Patzer den Berlinern zur 1:0-Führung, die Lucas Tousart mit einem Weitschuss erledigte. Der Franzose rutschte anschließend auf Knien über den Rasen. Und am Torjubel der Trainer Ibisevic und Schwarz, die sich wie Judoka aushebelten und rücklings auf dem Rasen landeten, war zu erahnen, wie heftig das Tor am Ventil zwischen Druck und Erleichterung gedreht hatte. „Wir haben die ganze Woche gesagt: ‚Wir wollen gewinnen‘, haben aber gemerkt: ‚Wir müssen gewinnen‘“, erläuterte Schwarz.

Nach Kangas Siegtor, nach der ausgiebigen Feier mit den Fans in der Ostkurve, sagte Mittelfeldspieler Suat Serdar etwas, das bei Hertha BSC jetzt vermutlich alle hoffen: „So ein Sieg kann einen Schub geben.“