Der Frust nach dem Abstieg saß tief. Die peinlichen Niederlagen gegen Schalke, Bremen und Köln waren Blamagen für alle, die es mit Hertha BSC gut meinen. Der Last-Minute-Abstieg im Heimspiel gegen Bochum gab einem dann den Rest. Man wollte (fast) alle Spieler weg haben; ein vollkommener Neuanfang sollte her.
Für eine finale Analyse über den Zustand bei Herthas Neunanfang ist es Ende Juli noch zu früh. Eine Transferperiode sollte man sowieso frühestens im Herbst bewerten – bis zum 1. September wird sich auf der Zu- und Abgangs-Seite noch sehr viel tun. Die sehr kurze und turbulente Sommerpause zeigte aber: Die Situation rund um den Verein bleibt bedrohlich. Typisch Hertha also?
Transfers von West nach Ost
Mit dem Ende der vergangenen Katastrophensaison verließen eine Menge Fußballer den Verein. Man verlor Hertha-Eigengewächse wie Maxi Mittelstädt und Jessic Ngankam, die vor drei Jahren hoch gelobten, neu hinzugekommenen Topstars wie Krzysztof Piatek und Lucas Tousart wurden ebenfalls abgegeben. Auch mit einem Alexander Schwolow wurde der Vertrag beendet. Die beiden Letztgenannten wechselten im Übrigen zwar den Verein, nicht aber die Stadt. Sie spielen nun in Köpenick. „So etwas macht man nicht“, kommentierten einige Hertha-Fans die Transfers, „man wechselt nicht zum Erzrivalen, Punkt.“
Die Vorbereitung auf die 16. Zweitligasaison hatte aber auch einige Lichtblicke. Um Neuzugang Fabian Reese entstand ein kleiner Anfangshype – diesen muss er aber auch spätestens am Samstag in Düsseldorf mit sportlicher Leistung rechtfertigen. Die Zusammenführung der drei Dardai-Brüder, inklusive Trainer Pal, ist eine im Profifußball, europaweit, wohl einmalige Geschichte. Berliner Weg und Identifikation mit der blau-weißen Fahne pur.
Heute hat der 17-jährige Bence #Dardai erstmals mit Herthas Profis trainiert.
— Marc Schwitzky (@junger_herr_) June 28, 2023
Vater Pal hat 1997 sein Debüt für Hertha gefeiert. Seitdem sind 26 Jahre vergangen - in 20 davon war ein Dardai im Profi-Kader.
Pal: 1997-2011
Palko: 2017-2020
Marton: 2020-?
Eine Dynastie. #HaHoHe pic.twitter.com/oIdF8QUJEl
Auf der anderen Seite ist die Geschichte rund um Rückkehrer Marius Gersbeck sehr bitter: zurücktransferiert zum Herzensklub, gute Aussichten auf eine Stammposition im Tor, vielleicht sogar auf die Kapitänsbinde, vor seinen Freunden in der Ostkurve einen Elfmeter für Hertha halten – eine zu romantische Story? Derzeit ist der 28-Jährige nämlich aufgrund noch zu klärender Vorkommnisse im österreichischen Trainingslager suspendiert, die nahe Zukunft im Verein bleibt unklar.
24 Stunden vor dem Auftakt am Rhein bleiben auch anderweitig noch viele Baustellen rund um den Kader. Wunschspieler wie Diego Demme vom italienischen Meister SSC Neapel oder der türkisch-deutsche Sturmtank Serdar Dursun von Fenerbahce Istanbul befinden sich noch in der „Warteschleife“. Hertha BSC braucht nämlich dringend Geld, ein Dodi Lukebakio muss noch verkauft werden. Am liebsten für 50 Millionen Euro nach Saudi-Arabien. Der Kader ist also bei weitem noch nicht komplett – eine Achse in der in vergangenen Jahren so mentalitätsarmen Mannschaft wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen. In den Testspielen machten sie einen ersten, stabilen Eindruck – nicht mehr, nicht weniger.

All den Umständen entsprechend sehen viele Fußballbeobachter in Hertha eine Wundertüte für die Zweite Liga. Ein Absteiger habe immer den Anspruch gehabt, Bundesliga zu spielen. Auch Hertha BSC sollte den Anspruch haben, Bundesliga zu spielen. Die ersten drei bis vier Partien könnten ein Fingerzeig sein, in welche Richtung sich die „Alte Dame“ sportlich entwickeln wird: Entweder man dominiert aufgrund der doch hohen individuellen Klasse einiger Spieler, oder man muss sich erst mal finden. Ängste vor Entwicklungen wie Nürnberg, Hannover oder beim HSV, die es nach ihren Abstiegen eben nicht geschafft haben wieder nach oben zu kommen, sind gegeben.
Zum Glück kein Augsburg und Leipzig mehr
Dabei hat es die Zweite Liga in diesem Jahr in sich – für die Fans jedenfalls: Viele trauern zwar den Topspielen gegen Bayern, Dortmund oder Spielen wie gegen Frankfurt und Gladbach hinterher. Man vergleicht diese Klassiker im Falle eines Abstieges sofort immer mit einem Freitagabendspiel in Paderborn oder einem Sonntagskick im saarländischen Elversberg.
Man kann die zwei Ligen aber auch anders vergleichen. Während müde und langweilige Gegner wie Heidenheim, Augsburg und Mainz oder Retortenklubs wie Leipzig und Hoffenheim den Herthanern in diesem Jahr erspart bleiben, warten mit Rostock, Magdeburg, St. Pauli und Kaiserslautern Teams und Städte, mit denen man sich schon lange nicht mehr messen konnte.




