Vorab ein kleines Gedankenspiel: Gianni Infantino steht am 20. Juli vor dem Eröffnungsspiel der Frauen-WM in Auckland im Fokus der Fußballwelt und während der Fifa-Präsident seine Rede hält, läuft eine Spielerin des Teams Neuseeland oder Norwegen auf die Bühne und umarmt ihn. Mal davon abgesehen, dass die Sympathiewerte des 53-Jährigen wohl keine Spielerin zu solch einer Aktion animieren würden, so wäre sie schlicht und ergreifend undenkbar, weil sie in der perfekt durchorganisierten Fifa-Welt nicht zugelassen würde.
Timothy Shriver bekommt eine überraschende Umarmung
Aber vielleicht findet Gianni Infantino, so er denn am Samstagabend vor dem Fernseher gesessen oder am kommenden Tag die Bilder gesehen hat, Gefallen an dem, was Timothy Shriver im Berliner Olympiastadion bei der Eröffnungsfeier der Weltspiele der Special Olympics erlebt hat. Dabei musste man schon genau hinschauen, um zu sehen, dass während der Rede des Vorsitzenden der Special Olympics International plötzlich ein syrischer Athlet auf die Bühne kletterte, Shriver die Hand schüttelte, ihm ein Küsschen auf die Wange gab, ihn umarmte und danach freudestrahlend zurück auf seinen Sitz im Innenraum des Stadions schlenderte. Shriver reagierte trotz leichter Unsicherheit amerikanisch locker, packte sein weißes Zahnpasta-Lächeln aus und rief ins Mikrofon: „Ich bekomme eine Umarmung.“
Was bei einer Großveranstaltung der Fifa ein Fehler im Programm wäre oder bei einer Theatervorstellung durch Improvisation so überspielt werden würde, dass es als Teil der Vorführung wahrgenommen wird, ist bei den Special Olympics ein perfekt unperfektes Element, das nicht herausgeschnitten oder verhindert, sondern zugelassen wird. So wie der Fackellauf auf der blauen Laufbahn des Olympiastadions. Während der bei Olympischen Sommer- oder Winterspielen fehlerfrei, weil unzählige Male geprobt, über die Bühne geht, wirkte die Entzündung der Flamme in Berlin etwas holprig, aber dafür ehrlich und unterhaltsam.
Hatte sich zunächst eine Athletin bereits auf der Gegengeraden etwas verlaufen und vorzeitig die Bühne angesteuert, ging es bei einer Athletin aus Pakistan noch etwas weiter. Getragen von der Stimmung der knapp 50.000 Zuschauer auf den Rängen hatte sie den Turbo gezündet, überlief nicht nur ihre Übergabestation, sondern hätte am liebsten gar nicht mehr aufgehört zu laufen. Zwei Einweiser waren nötig, um sie auf den vorgesehenen Weg zu bringen, um die Fackel am eigentlich vorgesehenen Punkt zu übergeben.

Die Reaktion des Publikums: lautstarker Applaus für einen vermeintlichen Fehler, der von ihnen nicht als solcher gesehen wurde und in den bunten, stimmungsvollen Auftakt der Weltspiele von Berlin passte und der Zuschauer und Athleten vereinte. Eine ganz besondere Atmosphäre, die auch Dirk Nowitzki faszinierte. „Hier herrscht nicht der große Druck, sondern es geht wirklich um den sportlichen Gedanken, um Zusammenhalt, Akzeptanz und darum, voneinander zu lernen, neue Freunde kennenzulernen aus der ganzen Welt“, sagte der frühere Basketball-Superstar, der als Botschafter der Special-Olympics-Bewegung auftrat.
Als Spieler kennt Nowitzki eine solche Großveranstaltung von den Olympischen Spielen in Peking 2008, als er die deutsche Fahne in das Stadion tragen durfte. Aber hier in Berlin „ist es so, dass hier alles ein bisschen vermischt ist, dass die Betreuer bei den Athleten wohnen, dass auch die Familien teilweise da sind. Und alle nehmen die öffentlichen Verkehrsmittel zu den Events. Da stellt sich ein familiäres Gefühl ein.“
Ein Gefühl, das in Berlin sichtbar ist, wenn man sich dieser Tage durch die Stadt bewegt. Da bekommt man am Ostbahnhof oder Alexanderplatz ganze Nationalmannschaften aus verschiedenen Ländern zu sehen, die sich geschlossen auf den Weg zu ihren Wettkampfstätten auf dem Messegelände, im Olympiapark, der Straße des 17. Juni, dem Neptunbrunnen oder nach Grünau begeben. Die Inklusion der geistig oder körperlich mehrfach behinderten Sportler aus 190 Nationen beginnt mit ihrer Nicht-Ausgrenzung in den Tagen von Berlin. Und die Hauptstadt hat gerade mit der Eröffnungsfeier eine Bühne zur Verfügung gestellt, die größer hätte kaum sein können und deren Show sie von Anfang bis zum Ende erleben und mitgestalten durften.
Sportler der Special Olympics erleben in Berlin einen besonderen Abend
Anders als bei Olympischen Spielen, wo die Sportler lange in den Katakomben ausharren müssen, die eigentliche Show gar nicht sehen, lieferte Berlin den Athleten Eindrücke, die sie so noch nie erlebt haben und sehr wahrscheinlich nie wieder erleben werden. Den Auftritt der Blue Man Group oder die Showeinlage der norwegischen Madcon, die jeden im Innenraum zum Tanzen animierte. Oder das spektakuläre Feuerwerk, das den Himmel über dem Olympiapark und die Augen vieler Athleten erleuchtete.



