Wird es womöglich zur bitteren Ironie des Schicksals? Es trug sich zu in einer längst vergangenen Zeit: Am 17. April 2021 teilt Hansi Flick erst über ein TV-Interview auf dem Rasen der Wolfsburger Fußballarena, dann der Mannschaft in der Kabine mit, dass er den FC Bayern zum Saisonende verlassen werde. Sein Arbeitgeber reagiert mit Missbilligung über diesen Weg der Kommunikation. Der Bruch ist vollkommen. Flick wechselt zum DFB, wo er eine neue Ära prägen will.
Zweieinhalb Jahre später sitzt der amtierende Bundestrainer vor einer Heerschar von Medienleuten und drei VW-Bussen im Pavillon für Nutzfahrzeuge in der Wolfsburger Autostadt. Wieder Wolfsburg. Anderes Los: Denn diesmal muss Flick um seinen Job kämpfen. Samstag, 20.45 Uhr (RTL) gleich nebenan im erst spät ausverkauften Stadion gegen die wehrhaften Japaner.
Bundestrainer Flick versucht sich an einem Befreiungsschlag
Der 58-Jährige ist in dem luftigen Saal erkennbar darum bemüht, ein bisschen Leichtigkeit in die bleischwere Gegenwart des daniederliegenden deutschen Fußballs zu mixen. Keine Spur eines beleidigten Bundes-Hans-Dieters nach den geballten Vorhaltungen an seiner Arbeit, sondern: gut gebräunter, gut gelaunter Hansi im Angesicht der beiden „Flick-Endspiele“ (Bild-Zeitung). Einem uninspirierten „Weiter so“ stellt sich Flick in einer bisher unbekannten Funktion als „Rulebreaker“ entgegen.
Nach all den Rückschlägen seit dem vergangenen Herbst und zuletzt vier allesamt enttäuschenden Länderspielen mit drei Niederlagen gegen Belgien, Polen und Kolumbien und einem schmeichelhaften Unentschieden gegen die Ukraine schien es ihm und seinem Trainerteam offenbar dringlich an der Zeit, festgefahrene Strukturen und Verhaltensmuster aufzubrechen. Und damit zumindest den Versuch eines Befreiungsschlages zu unternehmen.
Für Joshua Kimmich dürfte die ihm zuvor intern kommunizierte Neuausrichtung der Statik schmerzhaft gewesen sein. Denn der bisherige Kapitän ist fortan kein Kapitän mehr, jedenfalls dann nicht, wenn auch Ilkay Gündogan in Abwesenheit des vormals etatmäßigen Kapitäns Manuel Neuer zur deutschen Startelf gehört. Flicks Botschaft: „Ich habe entschieden, Ilkay die Binde zu geben.“ Die geübte Praxis, dass derjenige mit den meisten Länderspielen die Nationalmannschaft auf den Platz führt, wurde kassiert. Gündogan (67 Länderspiele) ersetzt in dieser Funktion Kimmich (79 Länderspiele).
Das kommt einer fundamentalen Neuausrichtung der Hierarchie gleich – und einer bemerkenswerten Beförderung des stets geschliffen formulierenden Deutsch-Türken Gündogan. Gerade vor dem Hintergrund, dass der inzwischen 32-Jährige vom FC Barcelona vor der WM 2018 in Russland mit einem heftig debattierten Foto gemeinsam mit dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan für gesellschaftliche Verwerfungen gesorgt hatte und sodann gemeinsam mit Mesut Özil in beispielloser Form angefeindet worden war. Gündogan fand, anders als Özil, zurück – und betritt nun eine neue Führungsebene im DFB-Team.
Flicks äußerte die Hoffnung: „Das wird der Mannschaft vielleicht helfen.“ Er „denke, dass gibt uns neue Energie, die wir brauchen können“. Das DFB-Team wird jetzt vom zurückhaltender führenden Gündogan geleitet, nicht mehr vom mitunter etwas brachialer daherkommenden Kimmich, dessen Ansprache hin und wieder bei Mitspielern auf Widerstand gestoßen war.
Spannend, wie Kimmich mit der neuen Position umgeht
Eine weitere Grundsatzentscheidung, die Kimmich mutmaßlich als Degradierung wahrgenommen haben müsste, wurde offenbar ebenso getroffen, auch wenn Flick das nicht explizit bestätigen mochte. Der Bayern-Profi soll nicht mehr wunschgemäß im zentralen Mittelfeld Bälle verteilen dürfen, sondern die verwaiste Position eines rechten Verteidigers einnehmen. Auch mit diesem Revirement verlässt Flick bewusst eingetretene Pfade, wahrscheinlich sogar noch mehr als mit der Neuvergabe der Kapitänsbinde. Gündogan formulierte nicht ohne Grund: „Gerade die mittlere Position ist von besonderer Bedeutung für die Dynamik einer Mannschaft.“
Es wird spannend sein zu beobachten, wie Kimmich mit der Situation umgeht. Ob er sie als Strafversetzung interpretiert? Flick war erkennbar bemüht, es anders aussehen zu lassen. Kimmich sei „für uns ein sehr, sehr wichtiger Spieler, ein absoluter Profi und Teamplayer“, der sich „in den Dienst der Mannschaft“ stelle. „Unsere Aufgabe als Trainer ist es, ihn da aufzustellen, wo er der Mannschaft noch mehr geben kann.“
Flick hat Kimmich schon einmal auf die rechte Seite versetzt
Schon beim erfolgreichen Finalturnier der Champions League im Geisterspielbetrieb hatte Flick, allerdings nur übergangsweise, Kimmich anstelle des verletzt fehlenden Benjamin Pavard nach rechts in die Viererkette versetzt. Kimmich gab sich unbeeindruckt, spielte bärenstark und bereitete im Finale gegen Paris Saint-Germain mit einer wohltemperierten Flanke das entscheidende Tor von Kingsley Coman vor. Zur dann folgenden Spielzeit wurde er von Flick wunschgemäß wieder im zentralen Mittelfeld positioniert.




