Es herrscht gerade eine toxische Verbindung zwischen der Fußball-Nationalmannschaft und der deutschen Öffentlichkeit. Der Eindruck verdichtet sich verdächtig, dass Spieler und Bundestrainer im besten Haus am Platze – dem Ritz-Carlton in Wolfsburg – und die mediale Wahrnehmung draußen in der Stadt so gar nicht mehr miteinander korrespondieren. Das Unverständnis in der „Blase DFB“ über die in der „Blase Medien“ maximiert sich. Der Bundestrainer sieht beleidigt aus und fühlt sich vom Land zunehmend unverstanden als Prügelknabe, Spieler wie Kai Havertz schwenken ein auf diese Linie.
Dabei ist Wolfsburg in diesen Tagen das pure Idyll. Ein Wetterchen wie im Südeuropaurlaub, der Mittellandkanal fließt träge dahin, als lade er zur Meditation ein. Die Szenerie gefällt den deutschen Fußballern, das sagen sie jedenfalls glaubhaft, es ist keiner der üblichen Wolfsburg-ist-langweilig-Witze. Die Wege sind kurz, die Herberge gilt als eine der besten des Landes, der Trainingsplatz D auf dem VfL-Gelände ist perfekt.
Es geht bei den Länderspielen auch um die Personalie Hansi Flick
Es könnte so schön sein, wäre da nicht die sportliche Realität, und ja, sogar ein misslauniger Kai Havertz sieht ein, dass die Statistik keine Lügnerin ist. Und die weist nur vier Siege aus den zurückliegenden 16 Partien auf. Daran ist eher kein Journalist schuld und kein Fan, wiewohl der Wahl-Londoner Havertz das mit ausdrucksloser Miene im Rückblick auf die WM in Katar doch anders sieht. In Richtung Publikum: „Wir hatten keinen Support aus dem eigenen Land, wir waren auf uns allein gestellt. Das war bei anderen Nationen nicht so.“ Hansi Flick hätte es nicht eindringlicher formulieren können.
Bedauerlicherweise kein Wort von Offensivmann Havertz dazu, dass es nach der Weltmeisterschaft schon vier Heimspiele auf deutschem Boden gab, bei denen die Anhängerschaft anfangs jeweils hoffnungsfroh alle Unterstützung schenkte – um sodann mehrheitlich bitter enttäuscht zu werden. Auch die Medien bekamen vom Arsenal-Profi Denksportaufgaben. Die Kritik an der Nationalmannschaft sei nicht immer berechtigt gewesen.
Man spürt allenthalben: Über allem liegt neben der eklatanten Reizstimmung die Ahnung einer möglichen Endzeit. Es geht darum, ob nach diesen beiden anstehenden Spielen Hansi Flick noch Bundestrainer bleiben kann oder der DFB erstmals in seiner Geschichte zwischen den Turnieren durchgreifen muss.
Die Spieler, die der DFB in den Pressestunden zur Mittagszeit seit Dienstag an die Öffentlichkeit geschickt hat – neben Havertz auch Robin Gosens („Sind dem Trainer was schuldig“), Marc-André ter Stegen, Niklas Süle, Jonas Hofmann und Julian Brandt („Müssen liefern, um das Land auf unsere Seite zu ziehen“) –, sie alle versichern, sich der besonderen Verantwortung bewusst zu sein. Man trifft nun in der so gut wie ausverkauften Wolfsburger Arena ausgerechnet auf WM-Schreck Japan (Samstag, 20.45 Uhr, RTL), danach in Dortmund auf den Giganten Frankreich (Dienstag, 21 Uhr, ARD).
Diskussionen um die Position von Kimmich im Nationalteam
Am Samstag sollen also die Schatten der jüngeren Vergangenheit vertrieben werden – und auf Hansi Flick ein freundlicheres Licht fallen. Es geht darum, ob die Nationalmannschaft überhaupt noch so etwas wie Anteilnahme auslösen und eine Erwartung für die Heim-EM 2024 schaffen kann. „Man muss jetzt einen Switch finden, damit man in die neun Monate zur EM reinkommt“, fordert Julian Brandt, der Dortmunder, der als Jugendlicher mal zweieinhalb Jahre lang für Wolfsburg spielte und sich gerade freut, in wie viele bekannte Gesichter er hier schaut. Es gibt sie also doch noch, die fröhlichen Geschichten, die aus dem massiven DFB-Camp dringen.
Und es gibt tatsächlich auch ein paar Neuigkeiten. In einem Testspiel, das der Verband hinter den Tribünen des Wolfsburger Frauenstadions nicht komplett abzuschotten wusste, schlug die A-Mannschaft das eigene U20-Team 5:0. Das alleine wäre nicht mehr als eine Fußnote, wenn nicht der Boulevard von der Aufstellung Wind bekommen hätte: Joshua Kimmich spielte rechts außen und nicht defensiv innen. Das ist eine Personalie, die nicht nur Potenzial für öffentliche Debatten hat, sondern auch für interne Diskussionen.


