Die Erfahrung von Krieg, Entwurzelung und Flucht ist eine der gravierendsten, die einen Menschen treffen kann. Es erschüttert das Leben derart nachhaltig, dass das Trauma sich über Generationen fortsetzen kann. Aktuell erfahren die aus der Ukraine geflüchteten Menschen viel Unterstützung. Sie werden versorgt und finden private Unterkünfte. Doch die Frage, die bleibt, ist: Wie geht man mit Kriegsflüchtlingen um? Was sollte man nicht tun, was nicht sagen? Wie kann man sie unterstützen, damit es ihnen gut und vielleicht besser geht?
Der Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke hat bereits während der Kriege in Bosnien und Herzegowina in den frühen 1990ern mit Traumatisierten gearbeitet und leistete unter anderem auch während der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 Hilfe. Er weiß: „Im Moment sind die Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen, extrem traurig, ängstlich und geschockt. Die eigentliche Traumatisierung, die nach internationaler Klassifikation als posttraumatische Belastungsstörung eingestuft wird, beginnt erst etwa zwei Monate nach dem eigentlichen Vorfall. Das haben viele Studien eindrücklich belegt.“
Darum gilt für den Moment: Sicherheit bieten, ansprechbar sein, Freiräume lassen. „Das schlimmste, was man jetzt machen kann, wäre, das erfahrene Leid auf irgendeine Weise zu bagatellisieren oder zu relativieren“, warnt der Experte. „Leider ist es aber auch so, dass man das erfahrene Leid nicht heilen kann. Es wird bleiben, man kann es nur lindern, indem man sein Herz öffnet und menschlichen Rückhalt bietet. Und das kann eigentlich jede und jeder von uns.“
Was genau brauchen Geflüchtete?
In der Psychologie gibt es fünf Grundpfeiler, die traumatisierten Menschen Halt geben: Schutz, Selbstwirksamkeit, Gesellschaft, Bindung und Hoffnung. „Darauf baut dann die später einsetzende Verarbeitung auf“, sagt Dr. Christian Lüdke. „Aber alle Geflüchteten brauchen Schutz, Förderung und Integration. Sie müssen erleben, dass sie geborgen sind, dass sie gesehen und gehört werden, dass man sie ernst nimmt und ihnen Perspektiven bietet.“
Man muss zunächst wissen, dass Leid im Nervensystem abgespeichert wird, woraus vielfach das Unvermögen resultiert, darüber zu sprechen. „Das ist neurobiologisch begründet. Menschen, die schreckliches erlebt haben, können selten darüber sprechen oder erzählen nur Dinge, die zwar im Kriegs-Kontext stehen, aber – für sie selbst und auch für andere – aushaltbar sind“, weiß Dr. Christian Lüdke. Deshalb sollte man auch nicht aktiv nachfragen, was den Geflüchteten widerfahren ist. Sie müssen selbst entscheiden können, was sie wann erzählen. Das ist eine Form der Selbstbestimmung, die wichtig ist, nachdem sie so viel Fremdbestimmung erdulden mussten.
Sollte Ihnen ein geflüchteter Mensch von seinem Schicksal berichten, hören Sie geduldig zu. Wenn es Ihr Bekanntheitsgrad zulässt, können Sie die Person auch in den Arm nehmen oder die Schulter streicheln. Sagen Sie ruhig, wie sehr Sie den Verlust bedauern und das Sie helfen möchten, einen guten Weg zu finden. Machen Sie Menschlichkeit erlebbar! Das habe, so Lüdke, eine stabilisierende Wirkung.
Wenn Ihnen selbst die Tränen kommen, ist das in Ordnung. „Hier gilt buchstäblich das alte Motto ‚geteiltes Leid ist halbes Leid‘, denn indem man als Flüchtling spürt und sieht, dass andere mitfühlen, wird das Erlebte erträglicher“, so der Therapeut. „Und Tränen sind ein hervorragendes Ventil, Gefühle herauszulassen. Trauer bedeutet Selbstreinigung. Gemeinsames Weinen wird vielfach als Solidarität interpretiert. Wir alle vergessen zum Teil, mit wem wir gelacht haben, aber wir erinnern uns genau, mit wem wir geweint haben. Das hat eine starke Bindungskraft.“
Wer Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnimmt, tut das meist aus altruistischen Gründen. Und das sollte auch die Handlungsmaxime beim generellen Umgang miteinander sein: Erwarten Sie keinerlei Gegenleistung, keine großen Dankbarkeitsgesten. In der jetzigen Situation zu helfen ist ein gelebter Akt der Nächstenliebe, und dafür muss man nicht einmal gläubig sein. Machen Sie Angebote, aber seien Sie nicht enttäuscht, wenn diese abgelehnt werden – das darf sein, und es muss auch keinen Grund dafür geben. Es ist und bleibt für die geflüchteten Menschen eine Ausnahmesituation.
Sie könnten beispielsweise fragen, ob Ihr Gast Lust hat, Sie zum Einkaufen zu begleiten. Machen Sie ruhig einen längeren Spaziergang. Die Bewegung tut gut, unterwegs ergeben sich Gesprächsanlässe. „Und beim Einkauf könnte Sie fragen, ob die Person Lust hat, zusammen mit Ihnen zu kochen oder ob sie vielleicht selbst ein typisch ukrainisches Gericht zuzubereiten“, rät Dr. Christian Lüdke. „Gucken Sie, was für Ressourcen die Flüchtlinge mitbringen. Musiziert oder singt die Person gern? Ermuntern Sie ihn oder sie, das ruhig weiterzumachen, Sie daran teilhaben zu lassen.“
In solchen Momenten erfahren die Geflüchteten nicht nur Wertschätzung, sondern auch Selbstwirksamkeit. Und sie empfinden Freude, weil sie an alte Gewohnheiten anknüpfen. Sie könnten auch anbieten, ein kleines privates gemeinsames Fest zu feiern, um sie in Deutschland willkommen zu heißen. „Solcherlei Ablenkungen können, sofern sie tatsächlich einen gewissen Rahmen nicht überschreiten, stabilisierende Wirkung haben“, so der Therapeut. „Sie könnte fragen: Wie feiert ihr denn so? Wie wollen wir das ausgestalten?“ Die Planung und die Feierlichkeit selbst können eine angenehme Abwechslung sein, können das Gefühl erzeugen, gebraucht zu werden und etwas zurückzugeben.
Seien Sie nur behutsam und hören beziehungsweise schauen Sie genau hin, wie Ihr Gegenüber Ihre Vorschläge aufnimmt. Es kann sein, dass geflüchtete Menschen aus dem Gefühl heraus, Ihnen etwas zu schulden oder Ihnen eine Freude machen zu wollen, zustimmen, es ihnen tatsächlich aber zu viel ist. Da ist Fingerspitzengefühl und Menschenkenntnis gefragt!
Wenn Sie miteinander lachen können, sollten Sie das genießen. „Häufig ist das bei geflüchteten Menschen schnell mit Scham und Schuldgefühlen belastet, weil sie ja so viel zurücklassen mussten, womöglich geliebte Menschen verloren haben. Das ist ein guter Moment, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken: Wer jetzt lebt, es raus geschafft hat, Kraft tanken kann, der kann später auch sein Land wieder mit aufbauen, sofern er oder sie möchte.
Was sollte man bei geflüchteten Kindern beachten?
Kinder brauchen Routinen und feste Strukturen, unabhängig von einer Fluchterfahrung, aber dann besonders. Deshalb ist es sinnvoll, geflüchtete Kinder zügig in Kitas und Schulen unterzubringen, damit sie Kontakt zu Gleichaltrigen haben, neue und unbeschwerte Dinge erleben können und eben auch einen festen Alltag haben. „Das vermittelt Geborgenheit und Halt. Alles Wiederkehrende ist berechenbar und damit nicht verunsichernd, weshalb vor allem Kinder mit einer derart traumatisierenden Erfahrung extra viel Sicherheit erfahren sollten“, erklärt Dr. Christian Lüdke. „Und aus Sicherheit entsteht Vertrauen. Das ist eine gute Basis, um Erlebtes zu verarbeiten.“
Also: Sorgen Sie für regelmäßige Mahlzeiten, feste Spielzeiten, wiederkehrende Rituale. Wenn möglich achten Sie darauf, dass die geflüchteten Kinder auch mit anderen Kindern, möglichst älteren, spielen können. „Kinder orientieren sich an älteren Kindern und lernen von ihnen“, so Dr. Christian Lüdke. „Es hat eine wahnsinnig integrierende Kraft, weil Kinder in der Regel viel offener im Umgang miteinander sind, sehr hilfsbereit und vorurteilsfrei. Und das tut traumatisierten Kindern gut, selbst wenn sie sich nur mit Händen und Füßen verständigen können. Das läuft meistens sehr intuitiv.“ Wichtig für Kinder ist es außerdem, möglichst viel zu spielen und an der frischen Luft zu sein. Beides fördert die Motorik, die geistige Entwicklung und das Gesundsein.
Dieser Ansatz der sogenannten sozialen Heilung sorgt dafür, dass Kinder schnell wieder Hoffnung schöpfen. „Und wenn die Kinder hoffnungsvoll sind, blicken auch die Mütter zuversichtlicher in die Zukunft. Das ist ein elementarer und nachweislich hilfreicher Baustein, um Geflüchteten dabei zu helfen, schnell wieder ein normaleres Leben führen zu können“, so der Therapeut. „Hoffnung und Selbstwirksamkeit gehen Hand in Hand. Wenn ein Kind schön mit einem anderen gespielt hat, stellt es fest, dass es das selbst bewirkt hat und in ihm keimt der Gedanke, das zu wiederholen. Ein wunderbarer Anfang zu ein wenig mehr Normalität.“
Was sollte man unbedingt vermeiden?
Natürlich sollte man im Umgang mit geflüchteten Menschen immer eine gewisse Sorgsamkeit walten lassen, sie zu nichts überreden, sie nicht bedrängen, keinerlei Erwartungen an sie stellen. Darüber hinaus sollten Sie darauf achten, keine lauten Geräusche zu provozieren. Feuerwerk und Knallerei sind aktuell ein kein Thema, aber Sie sollten sensibilisiert sein, dass das ein Problem für Kriegstraumatisierte ist.
Ebenso können ein lautes Motorrad, Spielzeug- oder Wasserpistolen, donnernde Flugzeuge und Hubschrauber die Erinnerung wachrufen, das Trauma verstärken. Kindern sollte man nachts ein Orientierungslicht anmachen, aber es kann auch sein, dass Erwachsene das brauchen. Fragen Sie einfach nach: Was braucht ihr, um gut schlafen zu können?
Wie gehen Geflüchtete mit dem Verlust von materiellen Dingen um?
Auch das ist ein schwieriges Thema: Fotoalben, Schmuck, das Hochzeitskleid, gemalte Bilder der Kinder – all die materiellen Erinnerungen sind plötzlich und unwiederbringlich weg. „Das ist wirklich schwer zu ertragen, und man darf das ruhig betrauern. Dennoch trägt man ja das meiste im Herzen, es ist nur physisch verschwunden“, so Dr. Christian Lüdke. „Man sollte den Fokus dann auf sogenannte Erinnerungsanker legen, den Ehering, ein bestimmtes Kleidungsstück, vielleicht auch bestimmte Blumen oder die Jahreszeit. Dann ist das Gefühl präsent und der Schmerz über den Verlust verblasst mit der Zeit. Man muss sich vergegenwärtigen, welche Gefühle man mit dem Erinnerungsanker verbindet.“






