Ukraine-Krieg

West- und Ost-Ukraine: Dank Putin wächst nun zusammen, was nie so richtig zusammengehörte

Andrij Melnyk hat mit seinen Bandera-Aussagen für Entrüstung gesorgt. Hat er damit für alle Ukrainer gesprochen? Welche Geschichtspolitik betreibt das Land? Eine Spurensuche.

Durch den russischen Angriff rücken die Ukrainer aus allen Landesteilen zusammen - auch wenn sie als Flüchtlinge in Deutschland aufeinandertreffen.
Durch den russischen Angriff rücken die Ukrainer aus allen Landesteilen zusammen - auch wenn sie als Flüchtlinge in Deutschland aufeinandertreffen.Imago/Leo Calo

In Heinrich Bölls „Gruppenbild mit Dame“ kommt Boris Bogatov, ein nikotinsüchtiger Veteran der Roten Armee vor, der fließend und fehlerfrei Deutsch spricht mit Ausnahme seiner missverständlich und meist unfreiwillig komischen Verwendung des Wortes „bekömmlich“. Angesichts der Tatsache, dass zwischen der Ukraine und Russland zurzeit ein Krieg tobt, mag es vielleicht etwas seltsam klingen, doch beim Streit um das vorläufig letzte Interview des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk könnte ausgerechnet der Russe Bogatov behilflich sein.

Obwohl er als ehemaliger Sowjetsoldat vermutlich eher auf der Seite Putins als der seines ukrainischen Amtskollegen Selenskyj stehen würde, könnte sein unfreiwilliger Sprachwitz doch aus dem Popanz, der da in den deutschen Medien aufgeblasen wird, ein wenig Luft herauslassen und dadurch all jene Dinge sichtbar machen, die sich dahinter verbergen, aber in der deutschen Debatte bisher so gut wie keine Rolle spielen.

Opfermythos gegen Heldennimbus

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren die Helden in aller Munde, nicht die Opfer. Die deutschen, russischen, französischen und österreich-ungarischen Helden, die aus den damaligen Kriegen hervorgegangen sind, wurden öffentlich geehrt, erhielten Orden, durften Reden halten und wurden der Jugend als Vorbilder angepriesen. Manchmal erhielten sie sogar höhere Renten. Die Kosten waren überschaubar, denn es gab wenige Helden.

Dann kamen nach dem Zweiten Weltkrieg Demokratie und Wohlfahrtsstaat, im Staatshaushalt wurden immer mehr Mittel für Umverteilung vorgesehen, um die es sich lohnte, zu kämpfen. Und der Staat baute seine Bürokratie so aus, dass sie einigermaßen imstande war, Opfer von Nicht-Opfern zu unterscheiden. Und so kam die Zeit der Kriegsopfer, der Vertriebenen, Nachfahren der Gefallenen, Ausgebombten und schließlich sogar der Opfer von staatlicher Willkür. Heute entschädigt unsere wohlfahrtsstaatliche Bürokratie sogar die Opfer von Kolonialismus, von Terroranschlägen, medizinischen Irrtümern und oft sogar Menschen, die von früheren deutschen Regierungen zu Feinden erklärt wurden.

Staaten mit kleineren Wohlfahrtsbürokratien feiern weiterhin ihre Helden, besonders, wenn sie noch dazu autokratisch regiert werden und ärmer sind.

Falsche Opfer könnten das System ausnutzen

Deutschland mit seiner überbordenden, dezentralisierten Bürokratie und seiner anti-militaristischen Außenpolitik ist Weltmeister darin, Opfer zu entschädigen – die eigenen und die fremden. Und sein Wohlfahrtsstaat hat sogar Methoden entwickelt, wie er in fremden Ländern echte Opfer, die Entschädigung verdienen, von solchen unterscheiden kann, die angeblich nur so tun, als hätten sie gelitten.

Inzwischen gibt es ein ganzes Netz von Stiftungen auf dieser Welt, mit deren Hilfe Deutschland „humanitäre Leistungen“, „Wiedergutmachung“ und sogar Reparationen (die keine sind, aber von den Empfängern so genannt werden) an den richtigen Mann und die richtige Frau bringt, ohne den früher üblichen Umweg über den Staatshaushalt des jeweils anderen Landes.

Anders als deutsche Politiker und deutschfreundliche Intellektuelle im Ausland gerne behaupten, ist Deutschland kein Meister der Vergangenheitsbewältigung, sondern, um bei der Fußball-Terminologie zu bleiben, spielt da eher im Mittelfeld. Aber es ist unangefochtener Weltmeister bei der bürokratischen Identifizierung und Auszahlung von Opfern, was allerdings für beide Beteiligten – die Opfer und den deutschen Staat – auch Nachteile hat.

Je mehr Geld der Steuerzahler dafür bereitstellt, desto größer ist der Anreiz für potentielle Antragsteller, sich als Opfer (und nicht als Zuschauer oder Helden) zu verstehen. Und je mehr das tun, desto weniger Geld bleibt am Ende für das einzelne Opfer übrig. Am Ende stehen lächerliche Beträge von ein paar hundert oder tausend DM als humanitäre Einmalzahlung für NS-Zwangsarbeiter, deren Zahl in die Millionen geht und die jahrelang für die deutsche Kriegswirtschaft geschuftet haben.

Das war nicht immer so und das ist auch jetzt nicht überall so. Man nehme zum Beispiel ein armes Land ohne große staatliche Bürokratie nach einem Konflikt mit vielen, vielen Opfern: die Demokratische Republik Kongo zum Beispiel, oder Kolumbien, Rwanda, Burundi oder den Libanon. Deren Regierungen waren vermutlich besser beraten, einige wenige Generäle herauszupicken, ihnen Orden zu verleihen und sie in den Schulen Vorträge halten zu lassen und den Rest ihres Haushaltes für Entwicklung, Infrastruktur, Armutsbekämpfung und das Gesundheitswesen auszugeben. Die Opfer vergangener Kriege bekommen dann keine Wiedergutmachung oder Entschädigung, aber dafür eine etwas bessere medizinische Versorgung.

Deine Helden, meine Helden

Die Ukraine ist so ein Land. Sie erbte ihre Bürokratie von der UdSSR und mit ihr erbte sie deren Heldenmythen. Als sie 1991 unabhängig wurde, standen ihre Städte voller Lenin- und Stalinbüsten, Generäle der Roten Armee und Anführer der sowjetischen Partisanen wurden als Helden verehrt und der Große Vaterländische Krieg war für die Öffentlichkeit das, was für das Deutsche Kaiserreich der Krieg Preußens gegen Frankreich war.

Das war ein Mythos, der aus Moskau verordnet worden war, der für die pluralistische, zerstrittene Gesellschaft, die sich nach 1991 zwischen Kharkiv und Lviv, zwischen Kiew und Odessa zu Wort meldete, wenig bekömmlich war, wie Boris Bogatov wohl sagen würde.

Das lag vor allem daran, dass dieses sowjetische Narrativ in seiner Schlichtheit kaum etwas von dem widerspiegelte, was die ältere Generation in der Zentral- und Westukraine ihren Enkelkindern weitergegeben hat. Wenn die Großeltern aus dem Donbas, aus Kiew oder Odessa kamen, dann erzählten sie ihren Enkelkindern meist von den Heldentaten der roten Partisanen, in deren Reihen so viele Ukrainer gegen die deutschen Faschisten gekämpft hatten und von der Roten Armee, die sie von der deutschen Besatzung befreit hatte.

Geschichtspolitik ist bekanntlich das Gegenteil von Geschichtsforschung

Kamen die Großeltern aus der Westukraine (oder den westlichen Teilen des Zentrums), so wussten sie von den Heldentaten der Ukrainischen Aufstandsarmee zu berichten, die sich dem Vormarsch der Roten Armee entgegenstellt hatte, um das Land und seine Bewohner vor den Massakern und Gewaltorgien der Kommunisten und Sowjets zu bewahren.

Für eine ukrainische Regierung, die nach der Unabhängigkeit das Land einigen wollte und dafür ein versöhnliches Narrativ über die Vergangenheit brauchte, war diese Ausgangslage ziemlich unbekömmlich. Wäre die Ukraine Deutschland, hätte sie vermutlich einfach die ehemaligen Sowjetsoldaten und roten Partisanen und ihre nationalistischen Gegner aus der Westukraine alle zu Opfer des Totalitarismus erklärt. Geschichtspolitik ist bekanntlich das Gegenteil von Geschichtsforschung; wo die erste schwarz-weiße erbauliche Märchen braucht, die man in Sonntagsreden und im Schulunterricht verwenden kann, beschäftigt sich die zweite mit Grauzonen und moralischer Vieldeutigkeit, die für Pädagogik und Politik – man ahnt es bereits – unbekömmlich sind.

Wanderungsbewegungen sind psychologisch problematisch

Wäre die Ukraine also Deutschland, hätte sie nationalistischen und kommunistischen Partisanen, Sowjetsoldaten und NS-Kollaborateuren einfach Opferrenten ausbezahlt und alle wären zufrieden gewesen. Doch die ganze unappetitliche Angelegenheit hatte auch eine geopolitische Dimension: die Roten im Osten sprachen Russisch, lasen russische Zeitungen und sahen russisches (oder russischsprachiges) Fernsehen, ihre Kinder halfen als Gastarbeiter bei der Modernisierung Moskaus, während die Schwarz-Roten (die Farben der Nationalisten) im Westen Ukrainisch sprachen, sich in Richtung USA, Europa und Polen orientierten, wo sie als Gastarbeiter Warschauer Wohnsiedlungen erbauten und Polnisch lernten.

Für keine der beiden Gruppen war das besonders angenehm: In Russland trafen sie auf eine ähnliche Arroganz wie in Polen und die wiederum unterschied sich nicht wesentlich von der Arroganz, mit der Deutsche in den neunziger Jahren auf Polen herabblickten, wenn sie als Gastarbeiter in Berlin Bürotürme errichteten. Solche Wanderungsbewegungen sind ökonomisch für alle beteiligten vorteilhaft, aber sozialpsychologisch, man ahnt es, eher unbekömmlich.

Helden, die Opfer und Opfer, die Helden sind

Doch wie geht man um mit einem Land, in dem die Nationalisten weg von Russland und nach Westen, eine Demokratie aufbauen und der EU beitreten wollen, während die Anti-Nationalisten in Richtung Russland davondriften und fürchten, dass sie, wenn die Ukraine der EU beitritt, die Verbindungen zu ihren Verwandten, ihren Baustellen in Moskau und ihren Gräbern auf der anderen Seite der Grenze verlieren, weil Ukraine dann genauso seine Ost- und Nordgrenze Schengen-Standards anpassen muss, wie Polen das Ende der neunziger Jahre tat, um der EU beitreten zu können?

Bis 2014 wurde dieser Konflikt nie entschieden – je nachdem, welche Oligarchen sich bei den Wahlkämpfen und den Auseinandersetzungen hinter den Kulissen durchsetzten, näherte sich Kiew mal Brüssel, mal Moskau an, erklärte sich für neutral und hatte eine multivektorische Außenpolitik (das nannte sich wirklich so), auf deren Höhepunkt das Land gefühlte 37 strategische Partner auf der Welt hatte, weil es niemanden vor den Kopf stoßen wollte, indem es ihn zum normalen, nicht-strategischen Partner ernannte.

Unter den Rote-Armee-Einheiten gab es „Ausmerzungsbatallione“

Die ukrainischen Nationalisten, demokratisch und antisowjetisch wie sie waren, hätten in dieser Zeit gerne auch Vergangenheitsbewältigung nach deutschem Vorbild betrieben, Berufsverbote für KGB-Agenten ausgesprochen, die Geheimdienstakten geöffnet und KGB-Offiziere vor Gericht gebracht. Nur dass diejenigen, mit denen sie da abrechnen wollten, in Kiew an den Hebeln der Macht saßen. Auch die sowjetischen, autokratischen und pro-russischen Weltkriegsveteranen, die ihre Stimme der kommunistischen Partei oder der „Partei der Regionen“ (damit waren vor allem die östlichen Regionen gemeint) gaben, hätten das gerne umgekehrt getan. Das klappte nie so richtig, denn oft brauchten sie die Nationalisten für ihre Regierungsmehrheit.

Wären sie in die deutschen Fußstapfen getreten, dann wären – wie dieser Tage in Deutschland – rollstuhlfahrende Greise mit Sauerstoffmasken vor dem Gesicht wegen Beihilfe zu Massakern an der Zivilbevölkerung angeklagt worden. Unter dieser Zivilbevölkerung waren auch viele Juden und Polen, aber die hätte dabei keine größere Rolle gespielt, denn unter sowjetischen Partisanen, Rotarmisten und denjenigen, die ihnen bis heute nacheifern, gab und gibt es sowohl Juden als auch Antisemiten. Und unter den Rote-Armee-Einheiten, die sich nach 1943 Richtung Berlin durch die Ukraine kämpften und mordeten, gab es spezielle sogenannte „Ausmerzungsbatallione“, die hinter der Front vermeintliche und tatsächliche Nazi-Kollaborateure fangen und, wie der Name sagt, ausmerzen sollten.

Eine wiederbelebte Tradition

Das war eine wunderbare Gelegenheit für jeden, der zuvor mit den Deutschen, Polen und antikommunistischen Ukrainern schlechte Erfahrungen gemacht hatte, es diesen so richtig heimzuzahlen. Und so wurden Täter zu Opfer und Opfer zu Täter, eine Mischung, die für eine klare, überzeugende und pädagogisch wirksame Geschichtspolitik ziemlich unbekömmlich ist.

Hinzu kommt, dass selbst diese Geschichte noch stark vereinfacht ist. Denn außer der pro-russischen Sowjet-Tradition im Osten der Ukraine und der Nostalgie nach den juden- und polenfeindlichen Nationalisten im Westen gab es auch noch ein Zentrum, in dem beide Tendenzen moderater waren und Gegenden, die sich auf andere Traditionen beriefen. So schmückten Denkmäler für den ukrainischen Agrar-Anarchisten Nestor Machno bis zum Kriegsausbruch die Großstadt Kharkiv und seinen Geburtsort Huliaipole. In Saporischja berief man sich gerne auf die Saporischjer Sitsch, eine demokratische Kosakenarmee, die sich damals den Tatareninvasionen entgegenstellte und deren Tradition im Ersten Weltkrieg wiederbelebt wurde.

Wie man es als Osteuropäer macht, ist es falsch

Wer einfache, schwarz-weiße Klischees mag, der wird von der neuzeitlichen ukrainischen Geschichte nicht wirklich zufriedenstellend bedient. Aber so ist das, wenn man, wie die Ukraine 1991, einfach jedem das Wahlrecht gibt, der sich auf dem Gebiet des neuen Staates befindet. Dann hat man den geschichtspolitischen Salat. Die baltischen Staaten trennten damals die post-sowjetische und pro-russische Spreu vom nationalen, nationalistischen und pro-westlichen Weizen, sorgten für klare Verhältnisse und haben heute keines der ukrainischen Probleme. EU und Europarat stellten sie dann prompt wegen Diskriminierung der (russischen) Minderheiten an den Pranger.

Die Mehrheitsverhältnisse im Obersten Rat, dem Parlament der Ukraine, schlossen einen dauerhaften Kompromiss über Geschichtspolitik und Vergangenheitsbewältigung immer aus, zumal auch nicht jeder Präsident eine ihm genehme Parlamentsmehrheit hatte. Hinzu kam der geopolitische Clinch, der auf jeden Präsidenten lauerte, der dauerhaft und konsequent gen Westen wollte.

Die Opfer sind in Deutschland die Helden

Er brauchte dann die Unterstützung der Nationalisten, für die die Aufstandsarmee und ihr Chefideologe, Stefan Bandera, Helden sind, denen sie Denkmäler errichten und nach denen sie dort Straßen und Plätze benennen, wo sie die notwendigen Mehrheiten in den Städten und Dörfern haben. Für sie ist Bandera ein Beschützer der ukrainischen Zivilbevölkerung vor sowjetischen und polnischen Übergriffen, der für eine unabhängige Ukraine kämpfte, so gesehen hatte Melnyk in seinem Interview recht.

Doch was vielleicht nur eine Diagnose war, wurde von seinen Kritikern als Bekenntnis verstanden. Dass in dieser Ukraine kein Platz für Minderheiten gewesen wäre, bleibt dabei – wie auch im jüngsten Interview von Andrij Melnyk – unausgesprochen. In Polen ist Bandera eine Hassgestalt, einer, der die ethnischen Säuberungen gegen Polen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges geplant und gerechtfertigt hat. Dass er selbst in einem deutschen Konzentrationslager saß, als sie stattfanden, wissen die wenigsten. Wäre die Ukraine Deutschland, würde sie Bandera schlicht zu einem Opfer von Nazis und Kommunisten erklären und zusehen, wie Andrij Melnyk an seinem Grab Blumen niederlegt wie weiland Helmut Kohl in Bitburg.

Aber die Ukraine befindet sich im Krieg und braucht Helden, keine Opfer. Und Deutschland, das gerade einen Wirtschaftskrieg gegen Russland führt, sieht sich überhaupt nicht als Kriegspartei und interessiert sich in erster Linie für Opfer. Man sieht das jeden Abend im Fernsehen. In polnischen Medien kämpfen die Ukrainer heldenhaft gegen die Russen, im deutschen Fernsehen sind sie die armen Opfer Putins. Man kennt das Schema aus dem Jugoslawienkrieg: da gab es hier die bösen Serben und dort die armen Bosniaken, Muslime, Kroaten und Kosovo-Albaner.

Über Serben, die von Kroaten und Albanern umgebracht wurden, zu berichten, war, frei nach Bogatov, der deutschen Medienöffentlichkeit damals nicht bekömmlich. Aus Gründen, die im Nachhinein nur schwer zu eruieren sind, haben Opfer in Deutschland grundsätzlich die moralische Verpflichtung, unschuldig zu sein, auch wenn sie das in der konkreten historischen Realität, in der sie zurechtkommen müssen, oft überfordert. Auf keinen Fall sollten sie Helden werden, denn diese können es beim Begehen von Heldentaten nur selten vermeiden, Täter zu werden. Und das könnte dann beim Publikum doch sehr leicht für Verwirrung sorgen.

Hinter den Kulissen der ukrainischen Geschichtspolitik

Ob Melnyk in München dem Opfer oder dem Täter Bandera gedachte, ist nicht überliefert. Seinem Interview ist zu entnehmen, dass er ihn offenbar nicht für einen Täter hält, was in der deutschen Medienlandschaft ausgereicht hat, einen Sturm der Entrüstung auszulösen: antisemitisch finden das die einen, Geschichtsklitterei die anderen und wieder andere verbreiten, Melnyk werde nun zurückgerufen, weil die polnische Regierung gegen seine Äußerungen protestiert habe. Weit gefehlt. Das Außenministerium in Kiew hat nur enigmatisch mitgeteilt, die Aussagen Melnyks in dem Interview entsprächen nicht der offiziellen Linie. Ein Dementi sieht anders aus, aber das liegt daran, dass das Ministerium zu diesen Fragen nicht nur keinen Standpunkt hat, sondern auf keinen Fall einen haben darf.

Bis Russland die Ukraine frontal angriff, konnte man über kaum ein Thema in der Ukraine so erbittert streiten wie über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und die unmittelbare Nachkriegszeit, als die einen Ukrainer die anderen Ukrainer im Namen unterschiedlicher Ideologien und im Auftrag fremder Großmächte umbrachten. Anders als in Westeuropa war der Krieg in Osteuropa auch nicht am 8. Mai 1945 zu Ende. In Polen kämpften nationalistische Partisanen noch bis in die fünfziger Jahre gegen sowjetische Besatzer und polnische Kommunisten, wobei ihnen sogar diejenigen ukrainischen Nationalisten halfen, die zuvor polnische Zivilisten ermordet hatten. In der Westukraine ergaben sich die letzten antikommunistischen Partisanen zu Beginn der sechziger Jahre.

Der polnische Protest

Die Nachwehen dieser Kämpfe hat nach 1991 keine ukrainische Regierung befriedigt. Das gelang erst Wladimir Putin. 2014 machte er aus einem zwischen Ost- und West unentschiedenen, aber grundsätzlich pro-russischen Land eines der russenfeindlichsten der Welt. Nach dem Maidan, als Putins De-facto-Statthalter Viktor Janukowitsch das Weite suchte und seine Partei in alle Winde zerstob, hatte das pro-westliche, antisowjetische Lager in Kiew zum ersten Mal wieder die Oberhand. Seitdem ist die Ukraine ein wenig deutscher geworden: Sie hat jetzt eine Art Gauck-Behörde und eine ganze Reihe von Gesetzen über Vergangenheitsbewältigung, die sich allerdings vor allem gegen die Leugnung kommunistischer und sowjetischer Verbrechen und gegen sowjetische Wiederbetätigung richten.

Im Februar dieses Jahres schweißte Putin dann die ukrainische Bevölkerung mehr zusammen als dies je einer ukrainischen Regierung zuvor gelungen war. Man kann das wörtlich nehmen: Zurzeit beherbergen die angeblich so nationalistischen, Bandera-idealisierenden Westukrainer circa sieben Millionen Flüchtlinge aus dem von Russland besetzten und bombardierten Osten, den man in Lemberg, Ivano-Frankivsk und Riwne bisher als Hort des Verrats und als sowjetnostalgischen Hotspot ansah.

Vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte der Westen zu Polen (und davor zu Österreich), während Zentrum und Osten erst zu Russland und dann zur UdSSR gehörten. Von Russland will im Osten der Ukraine nun so gut wie niemand mehr etwas wissen, nicht einmal Familien, die Verwandte in der russischen Armee haben. Dank Putin wächst nun zusammen, was nie so richtig zusammengehörte. Weder das Außenministerium in Kiew, noch Präsident Selenskyj können ein Interesse daran haben, diese Gräben wieder aufzureißen. Das aber müssten sie, wenn sie zu Melnyks Äußerungen inhaltlich Stellung beziehen würden. Der polnische Protest war da nur ein bequemer Vorwand, es nicht zu tun.

Antisemitismus spielt in der ukrainischen Politik keine große Rolle

Er erfolgte auch nicht wegen Melnyks moralischem Holocaust-Freibrief für Bandera, also jenem Aspekt, der deutsche und israelische Medien so sehr auf die Palme brachte. Im Gegensatz zu Polen war und ist Antisemitismus in der Ukraine nie ein erfolgreiches Mittel der Politik gewesen. In Polen wurde bisher fast jeder Präsident von der radikalen Rechten als Jude gebrandmarkt, Selenskyjs Abstammung spielte in der Ukraine nie eine Rolle. Wenn heute Oligarchen mit jüdischen Wurzeln angeprangert werden, dann wegen ihrer Nähe zu Putin, nicht wegen ihrer Verfahren. Auch da hatte Melnyk recht: Man kann ukrainischer Nationalist und trotzdem kein Antisemit sein. Deutschen und polnischen Nationalisten gelingt soetwas nur in Ausnahmefällen.

Aber Polen und die Ukraine haben seit Jahrzehnten ein geschichtspolitisches Hühnchen zu rupfen, dem erst Putin vor vier Monaten das Leben gerettet hat. Polens Parlament hat nämlich die ethnischen Säuberungen der Ukrainischen Aufstandsarmee vor Kriegsende erst in einer Resolution zum Völkermord erklärt und dann ihre Leugnung mit einer mehrjährigen Gefängnisstrafe belegt. Die Ukraine reagierte darauf in etwa so, wie die Türkei auf den Armenien-Beschluss des Bundestages. Heute will davon bei der Regierungspartei PiS niemand mehr etwas wissen, aber weder die Völkermord-Resolution noch das entsprechende Gesetz wurden bisher revidiert.

Unbekömmliche Vergangenheitspolitik

Es kann sein, dass Melnyk abberufen wird. Es kann sogar sein, dass das dann – inoffiziell – damit begründet wird, dass er deutsche Politiker beleidigt oder die polnische Regierung belästigt hat. Der wirkliche Grund ist, dass er mit seinen Äußerungen eine Front eröffnet hat, an der Ukrainer nicht gegen Russen, sondern gegeneinander kämpfen. Bisher hat Melnyk das immer geschickt und bis zur Selbstverleugnung zugedeckt.

Er wollte die sowjetischen Opfer der deutschen Besatzung als ukrainische Opfer anerkannt und die deutsche Dankbarkeit gegenüber der UdSSR für die Befreiung vom Nationalsozialismus auf die Ukraine übertragen wissen. Denkt man das zu Ende, ergibt sich daraus eine Geschichtspolitik, der zufolge die Ukraine zum Opfer der beiden Totalitarismen und gleichzeitig zu einem Helden wird, der Deutschland vom Nationalsozialismus befreite. Ein ukrainischer Nationalist, der in Deutschland die Rote Armee als Befreier vom Nationalsozialismus verkauft, das hat es bisher in der Ukraine noch nicht gegeben und birgt ein gewisses Potential für einen inklusiven Nationalismus, in dessen Rahmen sich dann irgendwann vielleicht Bandera-Anhänger, Kosaken-Nostalgiker und ehemalige Rotarmisten aus der Ukraine gegenseitig Denkmäler in die Landschaft stellen.

Für die deutsche Öffentlichkeit wäre das geschichtspolitisch eine eierlegende Wollmilchsau: die Ukraine wäre dabei Opfer und Heldin gleichzeitig und würde die Sowjetunion in allem beerben, was hierzulande an Positivem mit ihr assoziiert wird. Für die Deutschen mit ihrer Abneigung gegen Helden und ihrer Sehnsucht nach einer klaren Unterscheidung zwischen unschuldigen Opfern und abgrundtief bösen Tätern wäre das eine echte Herausforderung. Jenseits aller Empörungswellen und Verurteilungsreflexe könnte sich das zu einer Debatte entwickeln, in deren Verlauf die selbsternannten Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung vielleicht von anderen dazulernen, wie beschränkt einsatzfähig ihr Modell eigentlich ist. Die Reaktionen auf Melnyks Interview deuten allerdings darauf hin, dass sie es stattdessen, frei nach Bogatov oder Böll, unbekömmlich finden.

Klaus Bachmann ist Politikwissenschaftler, Historiker, Publizist und Professor für Sozialwissenschaften an der SWPS University in Warschau.

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