An Absurdität war der Samstag in Russland wohl nicht zu übertreffen. Erst wollte Söldnerführer Jewgeni Prigoschin die Militärführung im Land stürzen, drehte dann knapp 200 Kilometer vor Moskau aber wieder um. Ausgerechnet der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko soll einen Deal zwischen Wladimir Putin und Prigoschin ausgehandelt haben. Wie schauen die Russen auf diesen geschichtsträchtigen Tag?
„Viele Menschen sind gestern verwirrt schlafen gegangen“, sagt eine Russin, die nicht namentlich genannt werden will, der Berliner Zeitung. Fragen blieben offen. Wie konnten Hunderte von Wagner-Söldnern ohne größeres Blutvergießen zwei Großstädte in Südrussland einnehmen, problemlos die Autobahn entlang gen Norden nach Moskau marschieren und Helikopter der russischen Armee abschießen? Und trotzdem am Ende straffrei davonkommen?
„Putin geht stark geschwächt in seine nächste Dienstwoche“, sagt die Russin. „Hier in der Stadt wurde das erste Mal überhaupt der Anti-Terror-Notstand verhängt, man sprach vom ‚Dolchstoß‘, und am Ende kommt Prigoschin mit einem Deal davon?“, sagt sie, „und dann auch noch durch Vermittlung von Lukaschenko.“ Der versuchte Putschversuch verdeutliche, dass im größten Land der Erde derzeit wenig nach Plan laufe – weder innen- noch außenpolitisch.
Auf den Moskauer Straßen und Prospekten schien es oberflächlich gesehen ein normaler Tag zu sein. Geschäfte und Museen blieben geöffnet, die Metro fuhr im üblichen Zwei-Minuten-Takt, am Moskwa-Fluss tanzten Jung und Alt gemeinsam Tango. Der Rote Platz hatte zwar geschlossen, das passiere jedoch hin und wieder. Innerlich aber zitterten viele Russen, packten vorsichtshalber schon ihre Koffer, die Straßen in den Norden waren überfüllt. Auch die Flugpreise ins Ausland – ob nach Kasachstan, nach Armenien oder in die Türkei – sind im Laufe des Tages rapide gestiegen.
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Wie stehen Russen zum Wagner-Führer Prigoschin?
Doch was denken die Russen über Jewgeni Prigoschin, der am Sonnabend die militärische Macht an sich reißen wollte? „Es ist schwierig, das allgemein zu deuten“, sagt ein Petersburger Geschichtslehrer der Berliner Zeitung. Prigoschin gehöre ein großes Medienimperium, viele relevante und in Russland reichweitenstarke Telegram-Kanäle stünden unter seiner Kontrolle. „Er ist ein PR-Mastermind und kann sich hervorragend inszenieren“, sagt der Lehrer, „dadurch hat er Charisma und wird wesentlich authentischer im Volk wahrgenommen als die Elite im Verteidigungsministerium oder in den Geheimdiensten.“
Russia: Civilians yelled at the police who showed up in Rostov after Wagner PMC left:
— Igor Sushko (@igorsushko) June 24, 2023
"Shame!" and "Traitors!" pic.twitter.com/oKFlCpqS0E
In Rostow am Don – der Stadt, in der Wagner-Truppen am Samstag sämtliche Militäreinrichtungen unter ihre Kontrolle brachten – jubelten Passanten den Söldnern zu. Polizeieinheiten wurden hingegen bedrängt und ausgebuht. Prigoschin inszeniere sich als ein „einfacher, ehrlicher Feldherr“, so der Tenor. Seine Videoansprachen sollen sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben. Im Moskauer Stadtbild waren Menschen pausenlos am Handy und haben die Lage verfolgt. „Ich musste gestern dreimal mein Smartphone aufladen“, sagt ein 34-jähriger Vorstadt-Moskauer der Berliner Zeitung.
Besonders bei den Unteroffizieren der russischen Armee soll Prigoschin große Popularität genießen. „Er spricht vermeintlich die Wahrheit aus, das denken viele Russen, und er zeigt sich als einer der wenigen in Uniform“, so der 34-Jährige. Inwieweit Prigoschins Worte, der Ukraine-Krieg sei unbegründet, die Kampfmoral der russischen Armee verändere, werden die kommenden Tage und Wochen zeigen.
„Es ist jetzt aber nicht so, dass die Wagner-Söldner im Land beliebter wären als die reguläre Armee“, sagt der Petersburger Geschichtslehrer. In weiten Teilen der russischen Gesellschaft war Prigoschin – ebenso wie seine Söldner-Armee – bis vor kurzem eine unbekannte Person. „Erst durch die öffentlich ausgetragene Fehde mit dem Verteidigungsministerium sprach man häufiger über ihn“, so der Lehrer. Im Westen bezeichnete man Prigoschin lange Zeit als den „Kreml-Koch“ oder „Putins Koch“. In Sankt Petersburg betrieb er einst ein Restaurant, in dem Putin gerne speiste.

















