Berlin - Es klingt nach einer Vorwarnung: „Voraussichtlich mehrere namentliche Abstimmungen“ steht unter dem Tagesordnungspunkt „Impfpflicht gegen Sars-CoV-2“. Es wird also länger dauern an diesem Donnerstagvormittag im Bundestag. Angesetzt sind knapp drei Stunden. Zur Wahl stehen vier Anträge. Eine Gruppe um den stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Wolfgang Kubicki sowie die AfD bringen jeweils Anträge gegen eine allgemeine Impfpflicht ein. CDU und CSU stellen ein sogenanntes Impfvorsorgegesetz zur Wahl.
Abgeordnete von SPD, Grünen und FDP legen den Entwurf einer Impfpflicht ab einem Alter von 60 Jahren zur Abstimmung vor. Dafür macht sich unter anderen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach stark. „Ich gehe davon aus, dass wir die Impfpflicht morgen beschließen werden“, hat der SPD-Politiker am Mittwoch auf einer Pressekonferenz gesagt. „Ein guter Vorschlag“ liege damit dem Parlament vor. Es handelt sich um einen Kompromiss, geschlossen zwischen zwei Gruppen von Abgeordneten, die sich zusammengetan haben, um ihre Aussichten auf Erfolg zu erhöhen. Die Befürworter einer Impfpflicht ab 18 und diejenigen, die ursprünglich eine stufenweise umgesetzte Impfplicht ab 50 favorisierten.
Impfpflicht: Zwei Gruppen wollen gemeinsam ihre Einführung
Der Kompromiss geht auf den Grünen-Abgeordneten Till Steffen zurück. Demnach müssen über 60-Jährige vom 15. Oktober an nachweisen können, dass sie geimpft oder genesen sind. Abhängig vom Infektionsgeschehen und einer künftigen Impfquote kann diese Regelung ausgesetzt werden. Von September an soll die Impfpflicht jedoch auch auf Menschen ab 18 ausgeweitet werden können, wenn die Lage dies erforderlich erscheinen lässt. Ein Impfregister soll zudem angelegt werden und eine Impfberatung obligatorisch sein. Die beiden letzten Punkte sollen Abgeordnete von CDU und CSU für den Antrag gewinnen.
Die Unionsfraktion selbst will nämlich genau das: ein Impfregister und eine Beratungspflicht. Festgeschrieben ist in dem Entwurf zudem ein „gestufter Impfmechanismus“. Der könnte bei Bedarf in eine Impfpflicht münden, allerdings nur für vulnerable Gruppen, nicht für alle Volljährigen. Außerdem müssten Bundestag und Bundesrat einer solchen Ausweitung zustimmen. Eine klare Absage erteilt die Union einer allgemeinen Impfpflicht. Ihr gesundheitspolitischer Sprecher Tino Sorge äußerte sich befremdet über die Strategie der Befürworter einer solchen Pflicht. „Wenn der neueste Kompromiss zwischen 18 und 50 jetzt plötzlich bei 60 liegen soll, kann etwas nicht stimmen“, sagte Sorge dem Sender n-tv.
Wolfgang Kubicki lehnt ebenfalls eine allgemeine Impfpflicht ab. Der FDP-Politiker führt vor allem juristische Gründe an. „Eine Impfung, die nicht zu einer sterilen Immunität führt, ist aus meiner Sicht verfassungsrechtlich nicht begründbar“, sagt Kubicki über seine Zweifel an der Schutzwirkung der momentan verfügbaren Vakzine. „Das unterscheidet die Impfung gegen Sars-CoV-2 von der Impfung gegen Masern oder Pocken.“ 50 Abgeordnete haben sich dem Antrag angeschlossen, darunter als prominente Parlamentarierin Sahra Wagenknecht. „Jeder hat das Recht, selbst über eine Impfung zu entscheiden“, sagt die Politikerin der Linken. Ihr Parteikollege Gregor Gysi hat sich ebenfalls dem Kubicki-Antrag angeschlossen.
FDP-Vize Kubicki: „Impfpflicht praktisch nicht umsetzbar“
„Ich halte die Impfpflicht auch praktisch für nicht umsetzbar“, sagt der FDP-Vize. Wie viele der 736 Abgeordneten Kubicki mit seinen Argumenten überzeugen kann, ist offen. Es reicht die einfache Mehrheit von mindestens 369 Ja-Stimmen. 282 Stimmen kommen zusammen, wenn sich die Koalition der Befürworter der Impfpflicht auch tatsächlich für ihren Antrag votieren. Die Union kommt auf 197, die AfD auf 80 und die Kubicki-Gruppe auf 50 Stimmen.
Erhält ein Antrag keine Mehrheit, könnten seine Unterstützer aus strategischen Gründen einem anderen Vorschlag ihre Stimme geben. Damit hat die Abfolge eventuell entscheidenden Einfluss auf den Ausgang der Abstimmung. Denkbar ist allerdings auch, dass keine der vier Anträge 369 oder mehr Stimmen auf sich vereinigt. Ohnehin muss ein erfolgreicher Entwurf den Bundesrat passieren.
Gut die Hälfte der Bevölkerung hierzulande spricht sich für eine Impfpflicht aus. Jedenfalls nach den Erkenntnissen der Meinungsforscher. Das Allensbach-Institut zum Beispiel veröffentlichte Mitte März das Ergebnis einer Umfrage, der zufolge 51 Prozent für eine obligatorische Immunisierung sind. Interessant auch ein anderer Befund: 61 Prozent der bisher nicht Geimpften in Deutschland wollen ein Bußgeld in Kauf nehmen oder sich ein befreiendes Attest besorgen, sollte die Impfpflicht kommen. 37 Prozent waren zu diesem Zeitpunkt unentschlossen, ob sie sich impfen lassen möchten oder nicht. Lediglich zwei Prozent wollten sich impfen lassen.


